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Jahrbuch Mannheimer Kultur — 1.1913(1914)

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Weiß, Otto: Wer ist musikalisch?
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https://doi.org/10.11588/diglit.68760#0123

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Dr, Otto Weiß / Wer ist musikalisch?

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Dr, Otto Weiß/Wer ist musikalisch?
Theodor Billroth, der berühmte Wiener Chirurg, den eine enge
Freundschaft mit Johannes Brahms verband, hat ein kleines Buch hinter-
lassen, das sich mit dieser Frage befaßt; der Tod hat ihn ereilt, ehe er
die letzte Feile an seine Arbeit legen konnte, und Eduard Hanslick hat
sie dann der Nachwelt übergeben. Das Büchlein enthält eine Fülle reiz-
vollen Materials, Es lehrt seinen Leser in erschöpfender Weise, wer im
physiologischen Sinne musikalisch veranlagt und wer im psychologischen
Sinne musikalisch gebildet ist; aber die in seiner Aufschrift enthaltene
Frage beantwortet es nicht, vielleicht eben deshalb, weil seinem Autor
die Feder zu früh entrissen wurde, Drum ist es nicht müßig, die Frage
nochmals aufzuwerfen und zu versuchen, sie ihrer Lösung näher zu
bringen.
Das allgemeine Urteil neigt dazu, jeden, der sich — nicht lediglich
kommerziell —, sei es als Musiker, sei es als Dilettant oder sonstwie für
Musik interessiert, auch für musikalisch zu halten. Wer aber die soge-
nannten musikalischen Kreise kennt, der weiß, daß dieses Urteil falsch
ist. Die Antwort auf die Frage nämlich, ob ein Musikinteressent auch
wirklich musikalisch sei, läßt sich nicht aus dem von ihm in irgendeiner
Form zur Schau getragenen äußeren Interesse für Musik, sondern einzig
und allein daraus entnehmen, wie er sich innerlich zur Musik stellt. Ich
will deshalb die Lösung der Frage in der Weise versuchen, daß ich unter-
suche, wie sich der Vorgang des Musikhörens psychisch abspielt. Be-
obachtete ich lediglich den musizierenden Menschen, so erhielte ich kein
erschöpfendes Resultat, weil es gewiß auch Personen gibt, die musikalisch
sind, ohne diese Eigenschaft aktiv zu betätigen,
Zahlreiche Menschen hören aus der Musik nur den Klang und den
Rhythmus — den Takt —, also das Elementare, wie es die Ästhetiker
nennen, heraus. Wer nur am Schmelz der Geigen, am Schmettern der
Trompeten, am Säuseln der Flöten, am rhythmischen Schlagen der
Pauken seine Freude hat, gehört in diese Klasse, Er gelangt, wie Jadas-
sohn so schön sagt, nur in den Vorhof des Tempels unserer Kunst, Aber
es ist verfehlt, über ihn zu spötteln, wie Hanslick es beliebt. Man darf
doch nie vergessen, daß die Musik in einem viel näheren Verhältnisse zu
den reinen Sinnesempfindungen steht, als sämtliche übrigen Künste — ich
habe soeben aus Helmholtz, Lehre von den Tonempfindungen, zitiert —
und man sollte sich stets bewußt bleiben, daß z, B, aller Zauber der In-
strumentation, wenn sie nicht dramatische oder thematische Zwecke ver-
folgt, rein nur im Sinnlich-Klanglichen besteht, Spott also verdient diese
Klasse von Hörern nicht, denn wenn sie auch, wie ich wohl sagen darf,
Musik nicht versteht, so hört sie sie doch mit Freude und Genuß,
Es gibt sodann eine zweite Klasse von Menschen, die alle Musik
— ich sehe dabei von zufälligen Erinnerungsassoziationen ab — als die
Darstellung eines Bildes, eines Vorganges, eines Gefühls oder einer Stim-
mung auffassen, Schopenhauer sieht in ihr sogar ein getreues Abbild der
 
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