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Dr, Karl Wolff
Dr, Karl Wolff/Friedrich Nietzsche
Vortrag, gehalten in der Matinee des Hof-
und Nationaltheater am 24. November 1912,
Friedrich Nietzsche war groß als Denker, noch größer
vielleicht als Künstler, — vor allem aber war er ein Prophet, Nicht ein
Vorhersager bestimmter einzelner Ereignisse, sondern Prophet im älteren,
tieferen Sinn des Wortes, Ein begeisterter Seher, dessen Wesen ganz
durchglüht war von dem Bilde der Menschenzukunft, jener furchtbaren
und berauschenden Vision, die auf der Höhe seines Schaffens vor ihm
emporstieg.
Das Los prophetischer Naturen kann inmitten der Welt, in der sie
leben, nur ein tragisches sein. Aber es gibt für sie eine Tragik von
zweierlei Art,
Unentrinnbar ist ihnen die Tragik der Vereinsamung. Sie stehen
außerhalb der eigenen Zeit, von ihr verkannt, verfolgt, vernichtet. An
ihrem Grab erst sammeln sich die Jünger; ihr Tod erst besiegelt ihren Sieg,
Dazu kommt aber zuweilen ein Tragisches von versteckterer, von
sozusagen boshafterer Art, Der Prophet, dieser Erstling einer kaum
heraufdämmernden Zukunft, erkennt sich doch zugleich als Sohn der
Gegenwart, — und wird von diesem Widerspruch zerrissen. Er findet
auch in sich selbst die Schwächen, die er verdammen muß, Er ist der
unbestochene Richter, der Prediger in der Wüste, — und dennoch auch
der Sünder, der Gerichtete,
Es gibt prophetische Naturen, die nur die eine Art der Tragik
kennen lernen und schon an ihr zerbrechen. Nietzsche durchlitt sie beide.
Er war von Anfang an ein Kämpfer gegen seine Zeit, ,(Unzeit-
gemäße Betrachtungen“ nennt er ein Jugendwerk, Ein Unzeitgemäßer
ist er geblieben bis zuletzt. Je mehr er zu sich selber kam und sein
Eigenstes fand — von der Zeit ab etwa, wo er in vier gewaltigen Zehntage-
Werken sein Grundbuch „Also sprach Zarathustra“ schuf — desto stiller
wurde es um ihn. Die alten Freunde schlichen davon, die neuen regten
sich noch nicht. Seine Briefe und Gedichte sind grelle Hilferufe aus
fürchterlichster Einsamkeit, Daß er die letzten Jahre seines Lebens fast
ganz in den Bergnestern des Engadins verbrachte, ist wie ein Symbol, Er
wohnte in Eisluft, in Gletscherferne, abgetrennt von allem Menschlichen,
Dabei verzehrte den Einsamen zugleich die Tragik des inneren
Zwiespalts. An ihm, wie an so vielen unserer Zeit, erfüllte sich der Fluch,
dem Ibsens Baumeister Solneß erliegt: er baute höher, als er steigen
konnte, Nietzsches brennender Haß galt all den Erscheinungen der
Gegenwart, die er als ,,Decadence“ zusammenfaßte, galt all dem, was
in Moral und Religion, in Kunst und Leben ihm schwach und klein, arm-
selig, platt und kränklich schien. Aber er selbst, der Lobredner des rück-
Dr, Karl Wolff
Dr, Karl Wolff/Friedrich Nietzsche
Vortrag, gehalten in der Matinee des Hof-
und Nationaltheater am 24. November 1912,
Friedrich Nietzsche war groß als Denker, noch größer
vielleicht als Künstler, — vor allem aber war er ein Prophet, Nicht ein
Vorhersager bestimmter einzelner Ereignisse, sondern Prophet im älteren,
tieferen Sinn des Wortes, Ein begeisterter Seher, dessen Wesen ganz
durchglüht war von dem Bilde der Menschenzukunft, jener furchtbaren
und berauschenden Vision, die auf der Höhe seines Schaffens vor ihm
emporstieg.
Das Los prophetischer Naturen kann inmitten der Welt, in der sie
leben, nur ein tragisches sein. Aber es gibt für sie eine Tragik von
zweierlei Art,
Unentrinnbar ist ihnen die Tragik der Vereinsamung. Sie stehen
außerhalb der eigenen Zeit, von ihr verkannt, verfolgt, vernichtet. An
ihrem Grab erst sammeln sich die Jünger; ihr Tod erst besiegelt ihren Sieg,
Dazu kommt aber zuweilen ein Tragisches von versteckterer, von
sozusagen boshafterer Art, Der Prophet, dieser Erstling einer kaum
heraufdämmernden Zukunft, erkennt sich doch zugleich als Sohn der
Gegenwart, — und wird von diesem Widerspruch zerrissen. Er findet
auch in sich selbst die Schwächen, die er verdammen muß, Er ist der
unbestochene Richter, der Prediger in der Wüste, — und dennoch auch
der Sünder, der Gerichtete,
Es gibt prophetische Naturen, die nur die eine Art der Tragik
kennen lernen und schon an ihr zerbrechen. Nietzsche durchlitt sie beide.
Er war von Anfang an ein Kämpfer gegen seine Zeit, ,(Unzeit-
gemäße Betrachtungen“ nennt er ein Jugendwerk, Ein Unzeitgemäßer
ist er geblieben bis zuletzt. Je mehr er zu sich selber kam und sein
Eigenstes fand — von der Zeit ab etwa, wo er in vier gewaltigen Zehntage-
Werken sein Grundbuch „Also sprach Zarathustra“ schuf — desto stiller
wurde es um ihn. Die alten Freunde schlichen davon, die neuen regten
sich noch nicht. Seine Briefe und Gedichte sind grelle Hilferufe aus
fürchterlichster Einsamkeit, Daß er die letzten Jahre seines Lebens fast
ganz in den Bergnestern des Engadins verbrachte, ist wie ein Symbol, Er
wohnte in Eisluft, in Gletscherferne, abgetrennt von allem Menschlichen,
Dabei verzehrte den Einsamen zugleich die Tragik des inneren
Zwiespalts. An ihm, wie an so vielen unserer Zeit, erfüllte sich der Fluch,
dem Ibsens Baumeister Solneß erliegt: er baute höher, als er steigen
konnte, Nietzsches brennender Haß galt all den Erscheinungen der
Gegenwart, die er als ,,Decadence“ zusammenfaßte, galt all dem, was
in Moral und Religion, in Kunst und Leben ihm schwach und klein, arm-
selig, platt und kränklich schien. Aber er selbst, der Lobredner des rück-