die man als Charaktermalerei bezeichnen kann, im
Gegensatz zur stofflichen, so wandte er die Technik
anders an und entwickelte sie nach einer andern
Richtung hin. Degas steht in demselben Verhältnis
zu Ingres, wie Bret Harte zu Dickens. Bei Bret Harte
und Dickens ist die Technik, wenn man ihr auf
den Grund geht, unverkennbar die gleiche; aber
die Stoffe sind so verschieden, dass die Technik in
allen äusseren Merkmalen verwandelt ist, und der
Vorwurf eines Mangels an Originalität in der Be-
handlung lässt sich keinen Augenblick halten. Eben-
so ist es mit Degas: im Grunde ist seine Malerei so
klassisch wie die Ingres', aber indem er stofflich
das Altertum mit den Brettern der Oper vertauschte
und kuriose Gegenstände als Hauptmerkmal wählte,
hat er eine der Kunst Goncourts verwandte und
ebenbürtige Kunst geschaffen, die sich bisweilen zur
Höhe einer Seite beiBalzac erhebt. Mit wunderbarem
Wahrnehmungsvermögen folgt er jeder Krümmung,
jeder charakteristischen Unregelmässigkeit,-so dass
er die Seele seines Modells auf die Leinwand schreibt.
Er will nur Die porträtieren, die er intim kennt,
denn es gehört zu seiner Technik, sein Modell nur
in der ihm eigentümlichen Umgebung zu malen.
Mit theatralischen Vorhängen, Balustraden und
konventionellen Posen will er nichts zu thun haben.
Er muss sein Modell studieren, bis er sämtliche
Besonderheiten seines Ausdrucks und seiner Be-
rgung kennt, und dann giebt er sie alle wieder.
we
und zwar so genau und mit so hebevoller Beob-
achtungsgabe, dass das Innenleben des Menschen
aufgedeckt wird. Whistler, dessen Kurzsichtigkeit
ihn keine dieser angeborenen Schönheiten sehn
lässt, hat behauptet, alle solche Vorzüge seien lite-
rarischer, aber nicht malerischer Art, und dieThat-
sache, dass er in Baltimore zur Welt kam, hat ihn
bestimmt, all Das anzufechten, was die Naturwissen-
schaften über Rasseeintiüsse und erbliche Anlagen
dargethan haben. Aber es giebt noch Menschen, die
an dem Glauben festhalten, dass seine Vorlesung
,Ten O'clock0 die Wissenschaft und die Geschichte
nicht ganz über den Haufen geworfen und nicht
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ED. DEGAS, BEI DER TOILETTE. ZEICHNUKf
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IOTOGK. DUKAND-KUEL
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Gegensatz zur stofflichen, so wandte er die Technik
anders an und entwickelte sie nach einer andern
Richtung hin. Degas steht in demselben Verhältnis
zu Ingres, wie Bret Harte zu Dickens. Bei Bret Harte
und Dickens ist die Technik, wenn man ihr auf
den Grund geht, unverkennbar die gleiche; aber
die Stoffe sind so verschieden, dass die Technik in
allen äusseren Merkmalen verwandelt ist, und der
Vorwurf eines Mangels an Originalität in der Be-
handlung lässt sich keinen Augenblick halten. Eben-
so ist es mit Degas: im Grunde ist seine Malerei so
klassisch wie die Ingres', aber indem er stofflich
das Altertum mit den Brettern der Oper vertauschte
und kuriose Gegenstände als Hauptmerkmal wählte,
hat er eine der Kunst Goncourts verwandte und
ebenbürtige Kunst geschaffen, die sich bisweilen zur
Höhe einer Seite beiBalzac erhebt. Mit wunderbarem
Wahrnehmungsvermögen folgt er jeder Krümmung,
jeder charakteristischen Unregelmässigkeit,-so dass
er die Seele seines Modells auf die Leinwand schreibt.
Er will nur Die porträtieren, die er intim kennt,
denn es gehört zu seiner Technik, sein Modell nur
in der ihm eigentümlichen Umgebung zu malen.
Mit theatralischen Vorhängen, Balustraden und
konventionellen Posen will er nichts zu thun haben.
Er muss sein Modell studieren, bis er sämtliche
Besonderheiten seines Ausdrucks und seiner Be-
rgung kennt, und dann giebt er sie alle wieder.
we
und zwar so genau und mit so hebevoller Beob-
achtungsgabe, dass das Innenleben des Menschen
aufgedeckt wird. Whistler, dessen Kurzsichtigkeit
ihn keine dieser angeborenen Schönheiten sehn
lässt, hat behauptet, alle solche Vorzüge seien lite-
rarischer, aber nicht malerischer Art, und dieThat-
sache, dass er in Baltimore zur Welt kam, hat ihn
bestimmt, all Das anzufechten, was die Naturwissen-
schaften über Rasseeintiüsse und erbliche Anlagen
dargethan haben. Aber es giebt noch Menschen, die
an dem Glauben festhalten, dass seine Vorlesung
,Ten O'clock0 die Wissenschaft und die Geschichte
nicht ganz über den Haufen geworfen und nicht
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ED. DEGAS, BEI DER TOILETTE. ZEICHNUKf
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