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Bayerischer Kunstgewerbe-Verein [Hrsg.]
Kunst und Handwerk: Zeitschrift für Kunstgewerbe und Kunsthandwerk seit 1851 — 54.1903-1904

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Kunststil und Frauenkleidung
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https://doi.org/10.11588/diglit.7291#0096

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Kunftftil und Jrauenfleiöuiig.

;60. Gesellschaftskleid aus lila Crepe de Chine mit Samt-
jäckchen. Battikarbeit von Irene Braun, München.

in der Franenlracht u»d von Hygiene in der Frauen-
kleidung, — zwei scheinbar weit voneinander ent-
legenen Themen, die doch schwesterlich verwandt:
denn erst wenn das Frauenkleid gesund und zweck-
mäßig ist, lohnt es sich, es künstlerisch zu gestalten;
wird doch auch nie ein Gebrauchsgegenstand zum
Kunstwerke werden trotz aller auf ihn verwendeten
Kunst, wenn er unzweckmäßig und unbrauchbar ist,
dagegen hat das zweckinäßige, organisch konstruierte
schon an sich ästhetischen Wert, den zu betonen und
slilgebend zu gestalten, es oft nur eines leisen
künstlerischen Nachdruckes bedarf. Damit war dis
Grundlage für die ganze Ausstellung gewonnen.
k)ie war der Beweis zu liefern, daß unsere bisher
übliche Modetracht ungesund ist, dort waren Rat-
schläge zu geben, wie etwa eine hygienisch einwand-
freie und dabei künstlerische Kleidung zu gestalten
sein wird, ksier gemißhandelte, verschnürte, der Be-

wegungsfreiheit beraubte Frauenkörper, denen die
Kleiderlast an der weichen Körpermitte mit bsilfe
eines erst künstlich geschaffenen Einschnittes, der
Modetaille, aufgebürdet ist, dort das Streben nach
einem Kleide, dessen Gewicht von den Schultern wie
von den Beckenknochen gemeinsam getragen wird,
von den beiden festen Knochengürteln des Skelettes
also, die von der Natur zum Tragen als am ge-
eignetsten geschaffen wurden.

Daß die Gewohnheit, den Körper des Kleides
wegen zu verunstalten und zu verstümmeln, nicht
von heute und nicht von gestern stannnt, sondern
mit einer Unterbrechung in der Empirezeit seit über
drei Jahrhunderten herrscht, zeigte eine historische
Abteilung der Ausstellung, zugleich wurde aber auch
die Tatsache bewiesen, daß man nicht erst heute
gegen das Verschnüren und Entstellen des Rumpfes
durch das Korsett zu Felde zieht, sondern daß der
Kampf schon einmal, gegen Ende des f8. Jahrhun-
derts und zwar erfolgreich, geführt worden ist. So
ließ uns die geschichtliche Betrachtung die heutige
Bewegung zur Verbesserung der Frauenkleidung
weniger überraschend, weniger unvermittelt und vor
allem nicht aussichtslos erscheinen. Jm Gegenteil,
andere Erwägungen verstärkten noch diesen Eindruck.
So bewies die Ausstellung den engen Zusammen-
hang zwischen Tracht und Kunststil zu allen Zeiten,
die eben einen Kunststil besaßen. Beides sind ver-
wandte Lebensäußerungen der Menschen ihrer Zeit,
beides darum kein Zufall, sondern das Ergebnis
zwingender Vorbedingungen, das sich so wenig wie
diese schaffen, als hemmen oder zerstören läßt.

Der Beweis für diese Tatsache ist aus vergangenen
Zeiten nicht schwer zu erbringen. Leuchtet cs doch
ohne weiteres ei», daß die Gotik mit ihrem durch-
dringenden, fast grüblerischen Sinne für alles Kon-
struktive sich nur in die knappsten Gewänder kleidete,
die das Arbeiten der Muskeln, das Spiel der Ge
lenke erkennen ließen, während die Renaissance, und
in deren Steigerung der Barockstil durch Kleider-
fülle und Stoffprunk die machtvolle Erscheinung zu
steigern wußte. Auch das Schönheitsideal für die
menschliche Gestalt wandelt sich ähnlich, indem die
Gotik magere, die Renaissance und der Barockstil
immer vollere Erscheinungen bevorzugten, so daß zur
Zeit des bfochbarockes Größe und Korpulenz geradezu
stilvoll waren. Zur Zeit des Rokoko liebt man die
zierliche Erscheinung. Die Frauen schnürten sich
den Brustkorb nach Möglichkeit, in derselben irrigen
Abeinung wie heute, dadurch schlanker zu erscheinen;
doch da der Leib hierdurch vorgetrieben wird, so
griff man bald zur ksüftpolsterung und zur Krinoline,
um durch die Breite des Rockes den Eindruck einer

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