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Bayerischer Kunstgewerbe-Verein [Hrsg.]
Kunst und Handwerk: Zeitschrift für Kunstgewerbe und Kunsthandwerk seit 1851 — 54.1903-1904

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Kunststil und Frauenkleidung
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https://doi.org/10.11588/diglit.7291#0098

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Kunftftil und Frcmenkleiduug.

>62. Dinertoilette in griinblauein Velvet mit Stickerei auf Leder.
Entwurf von Elisabeth Beischlag, München.

grauen als unabänderlich mit stummer Ergebenheit
hingenommen werden. Zwar kramten die Schneider
seit den dreißiger Zähren schon eifrig in den
Trachten der Vergangenheit, aber sie brachten nur
deren Torheiten zutage, die sic auch noch iit der
plumpsten Weise verwendeten: Stöckelschuhe, Reif-
rock, Tuls und Rorsett wurden zu neuem Leben er-
weckt. Die meisten dieser Instrumente wurden sehr
verbessert, wodurch ihre Torheit in noch hellerem
Lichte erscheint, Hatte schon \7o7 eine findige Lon-
donerin einen Reisrock zum Zusammenklappen nach
Art der Regenschirme erfunden, so ersann man in
den fünfziger Jahren Rrivolinen, die durch eilten
geistreich erdachten Mechanismus bei schmutziger
Straße gerafft werden konnten. Als dann seit den
siebziger Jahren Renaissance-, Barock- und Ro-
kokostil in rascher Folge sich ablösten, blieb die Frauen-
tracht davoit so gut wie unberührt. Versuche zur

Schaffung eitles „Feierkleides für die deutsche Frau"
um s8sR ein ähnlicher durch W. voll Raulbach uitd
andere Münchener Künstler zur Schaffung eines
Rleides nach Renaissancevorbildern hatten keinerlei
nennenswerten Erfolg; Raulbachs „Grctchengewänder"
wagten sich überhaupt kaum je auf die Straße, sondern
blieben Wintermode und Rarnevalsmaskerade für
deit Ballsaal.

Das sind die wichtigsten historischen Tatsachen,
die auf der Ausstellung für Verbesserung der Frauen
kleidung gewonnen werden konnten, und aus ihnen
haben die Veranstalter ihre Lehren gezogen, was zu
tun ist, wenn die Ausstellung und die ganze Bewe-
gung, die in den letzten zwei Jahren in Deutsch-
land mächtig eingesetzt hat, eitlen dauernden Erfolg
haben solleit. Wenn die Fraueukleidung aufhören
soll, unhygienisch zu sein, so wäre die Schaffung
einer neuen, wenn auch gesunden Rio de zwecklos,
da sie, wie alle Moden, rasch wieder verschwinden
würde. Ein Fortschritt von dauerndem Werte
könnte dainit nicht erzielt werden. Es handelt sich
vielmehr darum, Bahn zu brechen für eine neue
.„Trachtenform", die für die Weiterentwicklung
der Mode in Zukunft eine gesunde Grundlage und
den weitesten Spielraum gewähren kaitii für lange
Zeit. Es geht nun aus feem oben Gesagten hervor,
daß eine Tracht sich so wenig schaffen läßt wie
ein Runststil. Alle Versuche dieser Art finfe geschei
tert, wenn nicht die Träger der Bewegung damit in
erster Linie einer mächtigen Zeitströinung und der
Runst ihrer Zeit Ausdruck verliehen. Hufe dies
scheint heute der Fall zu sein: Das ganze Streben
nach Gesuitdung der Frauentracht vom Standpunkte
des Arztes wie des Rünstlers steht heute im engsten
Zusaiitmenhange mit unserer iitoderneu Runst, und
nach eineiit jahrhundertelangen, oft ganz vergeblichen
Rampfe der Arzte sind heute die Rünstler entschieden
glücklicher; denn es ist Tatsache, daß heute schon
Tausende von Frauen in Deutschland — und es
sind die schlechtesten eben nicht — den Wut gefun-
den haben, sich loszumachen von der herrschenden,
gesundheitsschädigenden Mode. Unsere moderne Runst
strebt nach einer künstlerischen Rultur, nach einer
Lebensführung, in der alles, was uns umgibt,
von Runst geformt und durchdrungen ist, worin
künstlerischer Geist und praktischer Sinn aufs engste
verbunden die Gestaltung unserer Umgebung bestim-
men. Nachdem in Architektur und Runstgewerbe
diese Erkenntnis sich durchgekämpft und zu schönen
Taten geführt hat, sollte da die Rleidung noch
länger von diesem Streben unberührt bleiben, ob
wohl sie die hohe Bestimnnmg hat, Hülle zu sein
für die vornehmste Naturschöpfung? -

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