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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — 7.1872

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Helbig, W.: Die neuesten Erwerbungen des Britischen Museums
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https://doi.org/10.11588/diglit.4814#0110

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211

Die neuesten Erwerbungen deS Britischen Museums.

212

Senats beigelegt wnrde, gegenwärtig durch uiehrere
werthvolle Bruchstücke vervollständigt ist. Unter der
Menge der Skulpturen zieht zunächst ein schöner kolossaler
weiblicher Kopf das Auge des Betrachters auf sich. Er
stimmt in der Anordnung und dem Stile vollständig mit
einem vom Mausoleum stammenven nnd ebenfallS im
Britischen Museum besindlichen Kopfe*) überein nnd ist
w>c dieser der Kunst der jüngeren attischen Schule zuzu-
schreiben. Der Kopf ist mit einer Haube bedeckt, unter
der sich zierlich gekräuselte Löckchen zur Stirn herabziehen.
Die Fleischbehandlung ist weich nnd verräth eine gewisse
Tendenz nach breiter Rnndung. Dagegen ist der Mund
scharf geschnitten. Jn den Partien zwischen Auge und Nase
gewahren wir jene tiefe Einsenkung, die als eine be-
zeichnende Eigenthümlichkeit der Typen der jüngeren
attischen Schule betrachtet werden darf. An den Löckchen
haben sich Ueberreste einer braunrothen Farbe er-
halten; nach einigen Spuren zu schließen, scheinen auch
die Pupillen Lemalt gewesen zu sein. Wiewohl diese
Neste zu dürftig sind, um die ursprüngliche Polychromie
des Kopfcs zu rekonstruiren, so ist es immerhin interessant,
ihnen an einem Denkmale zu begegnen, welches von der
Zeit des Praxitcles, der bekanntlich auf die Bemalung
seiner Statuen die größte Sorgfalt verwendete und sich
dabei der Beihilfe des Malers Nikias bediente, nicht weit
abliegt. Von dem Friese des Tempels ist eine ganze
Neihe vonBruchstücken vorhanden, derenArbeit deutlich mit
denFriesplattenvoinMausoleumübereinstimmt. Höchstens
ließe sich ein geringfügiger Unterschied darin wahrnehmen,
daß an den Neliefs von Priene das Nackte etwas weicher
und nnt weniger Detail behandelt ist. Leider sind
die Figuren meist so verstümmelt, daß es nur bei
wenigen möglich ist, ihre Bedeutung zu Lestimnien, wie
sich auch über deu Jnhalt der gesammteu Darstellung,
bevor es nicht geglückt ist, cine größere Neihe zusammeu-
gehöriger Stücke aneinanderzufügen, vor der Hand nur
Vermuthungen aussprechen lassen. Um hier uur einige
besonders bezeichnende Figurcn hervorzuheben, so kann
über die Bedeutung einer mäunlichen Gestalt, welche in
Schlangenlciberu endet, kaum ein Zweifel obwalten: sie
stellt offenbar einen Giganten dar. Eine weibliche Figur
scheint, nach deni erhaltenen Torso zu schließen, eine
Artemis gewesen zu sein. Eine dritte, welche, bekleidet mit
langem gegürtetem Chiton, den Mantel über den Knieen,
eiu Tympanou an der linkcn Schulter, auf eiucm Löwen
reitet, wird auf Kybele gedcutet werden müssen. Ein Torso
in langcni gegürtetem Chiton und flatterndem Mantel,
die Arme wie ausholend erhoben, scheint auf Dionysos
hinzuweisen. Jn emer zweiten, mit langärmeligem
Chiton bekleideten Jünglingssigur mit langen Locken
über den Schultern, die, den rechten Arm erhebend, nur

mit dem Oberkörper aus dem unteren Nande des Reliefs
hervorragt, könnte man Helios vermuthen, der sein Ge-
spann aus dem Meere emporlenkt. Die übrige weitaus
größere Menge von Figuren lasse ich, da ihre Deutung
vor der Hand unmöglich ist, unerwähnt. Die Gestalten
sind fastdnrchweg in heftigerBewegung dargestellt, welche
mit hinreichender Sicherheit auf Kampfscenen schließen
läßt. Da wir nun in den obenerwähnten Fragmenten
einem Giganten nnd verschiedenen Göttern begegnet sind,
so liegt die Vermuthung nahe, daß der Fries von Priene
Scenen aus derGigantomachic schilderte. Darstellnngen
dieser Art, welche den Sieg der Götter über die Giganten,
dcn Sieg des sittlichen Prinzips über rohe Naturniacht
verherrlichten, waren bekanntlich ein beliebter Schmuck
griechischer Tempel. Die Gestalt des aus dem Meere
emportauchenden Helios würde, wenn ich jene Figur
richtig gedeutet habc, auf die Fortdauer des durch den
Sieg der Olympier gesicherten Weltordnung hindeuten,
wofür sich ebenfalls ans der griechischen Kunst mannig-
fache Analogien anführen lassen. Doch muß ich aus-
drücklich bemerken, daß die Proportionen dieser Figur
etwas größer als die übrigen zu sein scheinen, wodurch
die Zugehörigkeit derselben zu dem Friese fraglich wird.

Offenbar in eine spätere Periode als diese von der
^ jüngeren attischen Schule abhängigen Skulpturen gehört
das charaktervolle Porträt eines unbärtigen Mannes
mit kahler Stirn. Das Kinn ist sehr stark entwickelt,
der Mund von großer Feinheit. An der Stirn und den
Pupillen sind Farbenspuren bemerkbar. Der äußere
llmstand, daß die betreffende Persönlichkeit bartlos auf-
tritt, weist darauf hin, daß dieselbe nach Alexander deni
Großen lebte. Doch dürfen wir die Ausführung dieser
Skulptur nicht in zu später Zeit und keineswegs erst in
römischerEpoche ansetzen. Esmöchte schwerfallen,unterdeu
erhaltenen römischen Porträts eines ausfindig zu niachen,
dessen Stilisirung der des Kopfes von Priene entspräche.
Die Kunst, welche dieses Bildniß gestaltete, behandelt die
äußere Erscheinung der Dinge in ungleich naturalistischerer
Weise, als es in den idealisirenden Porträts derrömischen
Epoche der Fall ist, hält dagegen in dem Ansdruck der
Einzelheiten nnd Zufälligkeiten der Bildung mehr Maß
als es die realistische Richtung der römischen Porträts zu
thun pflegt. Offenbar ist dieser Kopf ein Prodnkt
der Kunst der Diadochenperiode, einer Kunst, die
bis jetzt nur in wenigen sicher beglaubigten Originalen be-
kannt und alS Mittelglied zwischen der älteren idealen Kunst
und der später namentlich aufitalischem Boden geförderten
realistischen Entwickelung von großem Jnteresse ist.

Ein anderer wichtiger Erwcrb des Britischen
Museums ist die Statue eines Diadumenos, d. h. eines
Epheben, welcher sich die Tänie um das Haupt bindet.
Die Statue wurde bei Vaison (Vasio) in Südfrankreich
gefunden und ist, abgesehen davon, daß die Nase, dic

*) t^oivlon, IrüvelL nnN Ni860v6vi68. II, 106.
 
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