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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — 8.1873

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Langl, J.: Optische Täuschungen auf dem Gebiete der Architektur
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https://doi.org/10.11588/diglit.4815#0291

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571

Optische Täuschmigen auf dem Gebiete der Architektur.

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und sie durch Gegenschwellungen aufzuheben suchte; auf
die Ursachen der Täuschungen einzugehen, mußte ihnen
bei deni damaligen Stande der Naturwissenschaft über-
haupt ferne liegen. Sie formten nach ihreni aesthetischen
Gefühle und kümmerten sich nicht weiter um die Geheini-
nisse des Auges. Unumstößliche Thatsache ist es aber,
daß unser Sehorgan von Natur aus nicht für die
Projektion geometrischer Formen konstruirt
ist. So falsch es vom mathematischcn Standpunkte aus
ist, ein Bild für unser Auge an eine flache Wand zu
malen, so falsch zeigen sich umgekehrt Systeme von pa-
rallelen Geraden auf der hohlsphäroidähnlichen Fläche der
empfindenden Netzhaut. Die centrale Projektion durch
die Linse wird die Ebenen von parallelen Geraden in
Meridianlinien auf die Retina zeichnen, welche kegel-
oder vielmehr birnförmig sich verjüngend ihren Pol im
Centrum der Linse selbst haben werden. Empfänden
wir so, wie das Bild auf der Netzhaut erscheint, so
müßten uns alle parallelen Geraden als eonvergirende
Curven erscheinen, wenn wir jene ausnehmen wolleu, die
in der Axe der Linse selbst liegt. Aber die durch die
Erfahrung gewöhnte Ueberzeugung läßt uns die Linien
parallel erscheinen, und jedes Korrektionsmittel, das Bild
auf unserer Netzhaut so zu gcstalten, wie es in der
Natur vor uns ist, würden wir als Fehler fühlen. Jn
diesem Punkte überhaupt ist die Empirie allein die Kor-
rektur; ein subjektives Urtheilen über unser eigenes Seh-
vermögen bleibt ausgeschlossen. Nur ein plötzlich zum
Seheu gelaugender Blindgeborner könnte Auskunft über
die wahren Bilder auf der Retina geben.

Neben diesem Momente ist es aber die perspekti-
vische Verkürzung, welche durch die Einrichtung unseres
Sehorganes zur Erscheiuung gelangt. Die Perspcktive
ist uicht unter diese versteckten oder entwöhnten optischen
Täuschungen zu rechnen, sonderu kann in dem Apparate
als selbständiges mathematisches System betrachtet werden,
dessen Täuschungen nicht durch die Erfahrung aufgehoben
werden, sondern erst das Empfinden für sich allmählich
erziehen. Das Kind greift nach ben Sternen wie nach
der nahen Kerze,. es kennt noch keine Distanzen; erst die
Erfahrung lehrt es diese mcssen, obschon das System
der perspektivischen Berkürzungen in allen Zeiten des
Menschenalters gleich empfunden wird.

Wenn der Horizonl unseres Auges zwischen zwei
(beispielsweise horizontalen) parallelen Geraden sich be-
findet, so erscheinen diese in ihrer Verlängerung in's
Unendliche als Bogenlinien, und zwar concav zum Hori-
zont. Je näher wir der Ebene mit dem Auge rücken, in
welcher die Linien liegen, desto steiler werden sie zu ihren
Berschwinduugspunkten abfallen. Schnciden wir von
diesen Parallelen nun zu irgend einer Distanz ein Stück
durch Senkrechte heraus, für die Seitenausicht eines
griechischen Tempels (als Gebälk- und Stufenlinien), so

werden, sowohl wenn wir senkrecht der Fa^ade gegen-
überstehen, als wenn diese zur Rechten oder Linken nach
den Verschwindungspunkten hin unter einem schiefen
Winkel iu der Ferne liegt, die Geraden als Theile jener
Cnrve erscheinen, die, wie schon erwähnt, auffallender
zur Erscheinung gelangen wird, wenn sie dem Auge nahe
liegt, und nnscheinbarer, je näher den Fluchtpunkten.

Wir sind aber gewöhnt, alle Geraben auf unserer
schalenförmigen Netzhaut in Bogenlinien zu empfinden,
die sich meribianförmig der Linse zu verengen; zu diesen
durch bie centrale Projektion hervorgerufenen Schwel-
lungen der Linien kommen nun bei kleineren Abschnitten
von Geraden die zarten Nuancen der Curven, die aus
der Perspektive entspringen; sie verstärken gleichsam den
Fehler, der durch die Schalenform der Jketzhaut in Be-
zng auf die Projektion der Geraden besteht, müssen aber
als thatsächlich herausempfunden werden. Es ist nicht
unwahrscheinlich, daß aus biesem Zusammenfallen zweier
verschiedener Wirkungen auf ein empfindendes Organ
die Täuschungen entspringen, welchen die Griechen ihre
Korrekturen enlgegenstellten. Die Curven der Perspek-
tive fallen in die Curven, die wir als Gerade auf der
Netzhaut fühlen, und werden vou diesen durch das Ge-
wohnheitsgefühl sozusagen absorbirt; wir verlieren aber
Lamit den feinen Effekt der Perspektive von Geraden,
nämlich die zarte Schwellung gegen den Horizont, was
zu der Täuschung führt, daß die Linien nicht mehr gerade,
sondern entgegengesetzt geschwellt erscheinen. Nur eine
Schwellung der Linien in der Richtuug der perspektivischen
Schwellung, also gleichsam ein Entgegenkommen oder
Verstärken der Perspektive kann dann die Täuschung in
der Täuschung aufheben.

Was hier vorzugsweise von den Horizontalen ge-
sagr ist, kanu selbstverständlich auch für die Senkrechten
angenommen werden, da die Einrjchtung des Auges
außer dem etwas klcineren Gesichtswinkel keinen Unter-
schied zeigt.

Würde das Auge, d. h. das Organ, burch welches
wir das Licht empfinden, anders konstruirt sein, als es
ist — vielleicht so, daß die empfindenden Nerven unmit-
telbar mit der Außenwelt in Berührung ständen, so ließe
sich ein Wahrnehmen der Dinge ganz anderer Art denken,
als durch den Apparat der Linse und der Schalen der
Empfindungsfläche, woraus die Täuschungen der Perspek-
tive entspringen, als wäre ein korrekteres Fühlen der
Geraden möglich. So aber konstatirt die Natur in dem
Baue des Auges, daß die Gerade ihr kein Symbol der
Unendlichkeit ist, sondern alles in der Curve sich auflöst
und der Tanz der Horen und alles Seins in der stets
in sich zurückkehrenden Kreislinie sein Gleichniß findet.

Die genaue Analhse der Curven, in welchen Gerade
auf der Retina erscheinen, und die Untersuchung der Stö-
rungen des empirischen Empsindens gäbe ein interessantes
 
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