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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 41,2.1928

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Heft 11 (Augustheft 1928)
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https://doi.org/10.11588/diglit.8884#0408

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Ein günstiges Geschick hat ihn davor
betvahrh die innere Freiheit und Unbe-
fangenheit vorzeitig zu verlieren. Kein
eitler Elternehrgeiz befeuert ihn, kelne
glückstrahlenden Tanten beten ihn an.
Man ist vernünsti'g genug, ihn ei'nfach
in Ruhe zu lassen, ohne ihn durch Lob
oder Tadel zu stören. Wenn ich mi'r
dennoch die Erlaubnis erwirkt habe, das
Scherzo hier abzudruckcn, so will ich ge-
wiß nicht in den Fehler verfallen, den
die Eltern mit richtigem Takt vermeiden.
Jch rufe weder: „Hut ab, meine Herren,
ein Genie!" noch bin ich fähig, dem jun-
gen Menschen mit der unausstehlichen
Herablassung eineS Erwachsenen begön-
nernd auf die Schulter zu klopfen:
„Fahre so fort, rnein Sohn!" Was ich
will, ist nur, dem Leser an einem Bei-
spiel das Walten unbekannter, überindi-
oidueller Gesetzmäßigkeiten zu zeigen, daS
gerade in den Arbeiten naioer, unbeein-
flußter Jugend besonders deutlich offen-
bar wird. DaS rein Jndividuelle, Ein-
fallsmäßige sei nur im Jnteresse einer
klaren Abgrenzung und möglichst kurz
gestreift. Der musikalische Leser wird
leicht einsehen, daß in unserem Scherzo
daS thematische Material als solches
nichts aufwühlend Originelles bietet und
bei der Jugend deS Autors auch gar
nicht bieten kann. Das frifche Haupt-
thema läßt ohne weiteres das Dorbild
Schuberts erkennen, während das kan-
tabele Seitenthema etwas trivial und
ungelenk anmutet und mehr Auödruck
erslrebt, als es enthält. Für ganz Dummc
betone ich nochmals, daß diese Feststel-
lung kein Tadel ist, sondern mnistis rrm-
tsnäis für viele Jugendwcrke sehr großer
Meister gelten kann.

Das llbermdividuelle des Diehnschen
Scherzos aber liegt in der immanenten
Logik, mit der sich hier das Organische
der Musik durchsetzt. Jn dem ganzen
Stück gibt es keine Naht, keinen ge-
suchten Übergang. Alles entwickelt sich
mit der sanften Notwendigkeit natür-
lichen Wachsens. Wie prachtvoll wird
der Weg zu dem kantabelen Seiten-
thema gefunden! Die Tonart D-Dur ist
scheinbar erreicht, aber sie wird durch
die absteigende gebrochene Dreiklangs-
bewegung (Diertel!) und durch die Kon-
frontierung mit der Mollsubdominante

(Achtel!) erst ausdrücklich sichergestellt.
Dabei hat die Achtelbewegung noch die
kompositionelle Funkti'on, die Sphäre des
ersten Themas in die des zweiten hin-
überklingen zu lassen und den Hörer in
die veränderte Situation zu führen, ohne
daß er es merkt. Wie urmusikalisch ist
daS plötzliche Auftauchen des Haupt-
themas im Zweivierteltakt! Und wie
steigert sich hier das Drängen durch das
zweimalige Einfügen ei'ner dreitaktigen
Periode! Derartige Züge, besonders auch
der geistvolle Rückweg zum Dreiviertel-
takt, sind Dinge, die man nicht lernen
kann. Der geborene Musiker hat sie in
sich wie die Katze daS Mäusefangen.
Und daS ist die schöne Lehre anS diesem
Fall: daß dcr geborene Musiker in
Deutschland nicht umzubringen ist, ja
daß er heute mchr als zu unserer Zeit
die Naivität hat, ganz auö der Eigenge-
setzlichkeit seiner Kunst herauü zu spre-
chen. Denn sprechen muß man eine
Sprache können, ehc man in ihr dichten
will. Unsere Generation hatte das um-
gekehrt machen wollen, und ihre Arbei-
ten waren nur geistvoll aphoristisch. Sic
hatte Einfälle, aber sie wußte nichts da-
mit anzufangen. Sie wußte nicht, „wie's
weitergeht". Aber das Wesentliche und
Schwierigste alles Komponierens ist eben,
zu wissen, „wie's weitergeht". Wie viele
Leute gab es einst, deren feine Einzel-
einfälle über den Mangel echter, instinkt-
mäßiger Musikalität täuschten. „Der
Lenz, der sang für sie." Eines Tages
war es aus. Die einzelnen Einfälle
unseres Autors haben nichts Derblüffen-
des. Aber was an ihm fesselt, ist nicht
„der Lenz", sondern etwas Angeborenes
und Unverlierbares, es ist, ich sage es
noch einmal, die Fähigkeit, Musik als
Muttersprache zu sprechen.

Jch habe die Orthographie des Manu-
skripts an keiner Stelle verändert und
halte es auch für unerheblich, bei der Ge-
legenheit irgendwelche sich aufdrängenden
Tonalitätsfragen zu erörtern.

Alexander Berrsche
Auf der Bcilage der vorigen Nummer
ist der Name des Verlags, mit dessen
freundlicher Erlaubnis wir das Pfitzner-
sche Lied „Lockung" gebracht habcn, ver-
druckt worden. Es ist natürlich zu lesen:
Ries und Erler.

Derlag von Georg D. W. Callwey, Druck von KastnerL Callweyin München. — Berantwortlich:
Dr. Herinann Rinn, München. In Osterreich verantwortlich: Paul Sonnenfeld, Wien IX., Liechtenstein-
straße i6. — Geschäftsstelle sür Berlin: Georg Siemens, ^57, Kurfürstenstraße 6; Geschäftsstelle für Wien:
Goethe-Buchhandlung, IX., Liechtensteinstraße 16

Sendungen für den Text nur nach vorheriger Dereinbarung, da sonst keiue Derantwortung übernommen werden
 
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