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Kunstwart und Kulturwart — 28,1.1914

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Heft 2 (2. Oktoberheft 1914)
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Lose Blätter
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14418#0073

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und an einen Leichnam geglaubt, wenn sich Franz nicht zu den Ver--
sammelten gewendet und beinahe lustig gesagt hätte: „Seht einmal da
unsern lieben tzerrn Papst! Er hat seinem Nachfolger nichts hinterlassen
als dieses Lächeln auf der Stirne und diese paar Spinnfäden im tzaar.
Aber das ist genug."

And mit der gleichen tzeiterkeit und den feinen, höflichen tzänden, wo-
mit er vorher dem blinden Nazaro serviert, die Rangen gestreichelt und
das Spinnlein bedient hatte, schloß er dem Heiligen Vater den offen
gebliebenen Mund und scherzte noch: „Bleib nun still! du hast genug
gelärmt!"

Verwirrung und Gewoge im Palast und in der Stadt Perugia. Aber
die Leiche hin geht Posaunenstoßen und Roßgetrappel und das schwere,
erhitzende Geschäft einer neuen Papstwahl. And in diesem großen Getöse
merken nur ein paar leise, fromme Menschen das Flattern einer weißen
unbekannten Taube, die sich zu tzäupten des aufgebahrten Papstes in
San Lorenzo niederläßt, wie damals, als man den Iüngling zum Papst
erkor.

Als Franz spät am Abend in die Klosterstube zu Assisi trat, sagte er:

„Anser lieber Bruder Innozenz ist soeben drüben in Perugia in diesem
Mantel gestorben und hat den Frieden gewonnen!"

Da liefen die Brüder herzu und küßten das braune, grobe Tuch und
wollten allsogleich das Requiem aeternam für den Toten anstimmen.

Aber Franz vollendete: „Betet also für die arme Seele des — neuen
Papstes!«

Vom tzeute fürs Morgen

Soll und Haben unsrer
Friedensliebe

1. Die Sollseite

enn wir die Bilanz der Erfolge
unsrer Friedensliebe ziehen, so
sieht sie zunächst übel aus.

Wir haben, um Rußland zu
versöhnen, es im Frieden mit Ia-
pan unterstützt, dafür kommt uns
jetzt Rußlands Dank und Iapans
Quittung.

Wir haben, um irgendeine ge-
mein-europäische Aktion zustande zu
bringen, das Einschreiten im Boxer-
aufstand veranlaßt und dadurch
einen zweiten natürlichen Verbün-
deten gegen Rußland kopfscheu ge-
macht.

Wir haben, um England zu ver-
söhnen, die Buren fallen lassen.
Bun kommt als Quittung die Nach-
richt, daß Botha Südafrika in

Kriegszustand mit dem „gemein-
samen Feind" — das sind wir! —
erklärt hat. Derselbe Botha, für den
wir uns in Deutschland so begeister-
ten. Aber freilich, das tat auch
Frankreich, und die französische Re-
gierung durfte sich erlauben, ihn zu
empfangen, die deutsche tat es aus
Rücksicht auf England und den Frie-
den nicht.

Selbst den Islamismus haben
wir zu verschiedenen Malen enttäu-
schen müssen. Wiederum des lieben
Friedens willen. And auch der wäre
fast verhängnisvoll für uns ge-
worden.

Auch unsre Polenpolitik haben
wir mehr um eines guten Verhält-
nisses zu Rußland willen getrieben
als aus eigener Aberzeugung. Mit
der russischen Richtswürdigkeit in
der Art der Behandlung der Polen
haben wir sreilich nicht Schritt hal-

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