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Kunstwart und Kulturwart — 28,1.1914

DOI Heft:
Heft 3 (1. Novemberheft 1914)
DOI Artikel:
Corbach, Otto: Krieg und Wirtschaftsleben
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https://doi.org/10.11588/diglit.14418#0110

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Krieg und Wirtschaftsleben

lehrt handeln; das gibt dem schlimmsten gesellschaftlichen Not-
^^/zustande, dem Kriege, unter Amständen den Anschein eigener Frucht«
^ B^barkeit. Wie jedes große Unglück rüttelt der Krieg schlummernde
Kräfte wach, und deren Leistungen erscheinen nun als „Segnungen des
Krieges". Deshalb kann sich ein Volk selbst nach einem verlorenen Kriege
stärker fühlen als vorher, wenn es über genügend unverbrauchte Kräfte
verfügt, um die erlittenen Verluste rasch wettzumachen. Die Lasten, die
die Sieger den Besiegten auferlegen, sie selber können sogar den Be-
siegten noch nützlich sein, indem sie ihren Arbeitseifer anfeuern und sie
vielleicht erst zu jener dauernden Willensanspannung erziehen, die Er«
haltung und Fortschritt der modernen Kultur erfordern.

Das Wirtschaftsleben ist wie alles andere Streben von Trägheitsneigun«
gen stark belastet, die im Frieden oft mehr zu-- als abnehmen, und der
Krieg kann als Reizmittel dagegen wirken. Wir hielten das Rnheil
eines allgemeinen europäischen Krieges fast für zu furchtbar, um möglich
zu sein; nun ist es da, und wir wundern uns, daß es unser Volk bis jetzt
verhältnismäßig leicht erträgt. Das praktische Leben hatte im Frieden
nur sehr wenig von den Möglichkeiten verwirklicht, die die Theoretiker
für das Wirtschaftsleben handgreiflich darzustellen wußten. Die Macht
der Gewohnheit ließ den Willen zum Fortschritt immer seltener über das
ideelle Stadium hinauskommen. Der Krieg unternahm da eine Gewalt-
kur. Der Gedanke, daß Deutschland ausgehungert werden könnte, lebt
nur noch als tzoffnung bei unsern Feinden, nicht mehr als Furcht bei uns.
Selbst wenn wir völlig von der Außenwelt abgeschnitten wären, brauchten
wir nicht zu hungern. Wenn wir an BroLkorn etwas zu wenig erzeugen,
um den gewöhnlichen eigenen Bedarf zu decken, so könnten wir dafür
ohne Schaden für die Gesundheit etwas mehr von den Kartoffeln essen,
die wir in Aberfülle haben. Erst recht ließe sich ein Teil des Fleisch-
verbrauchs in Friedenszeiten durch Bevorzugung anderer Lebensmittel
ersetzen. Rnsere Industrie hat wohl der heimischen Landwirtschaft viele
Kräfte entzogen, aber sie hat auch ungemein anregend auf die landwirt-
schaftliche Erzeugung eingewirkt. So stark wie bei uns die Abwanderung
vom Lande nach den Industriegegenden in den letzten Iahrzehnten ge-
wesen ist, viel stärker war in den osteuropäischen „Agrarstaaten" die Aus-
wanderung nach überseeischen Ländern. Als Industriearbeiter wurden
aber unsre ländlichen Abwanderer kaufkräftige Verbraucher für die hei-
mische Landwirtschaft, die infolgedessen zu immer gründlicherer Wirtschafts-
weise übergehen konnte. In den letzten zehn Iahren ist in Deutschland
die landwirtschaftliche Erzeugung rascher fortgeschritten als die Bevölke-
rung. Unsre umfangreiche Industriewirtschaft bot nun in Kriegszeiten
noch den Vorteil, daß zur Fahne einberufene Erntearbeiter leicht durch
arbeitslos gewordene Industriearbeiter ersetzt werden konnten. Es brauch-
ten und brauchen keine Früchte auf den Feldern zu verfaulen, gerade weil
die modernen Verkehrs- und Arbeitsverhältnisse es gestatten, in Kriegs-
zeiten Arbeitskräfte aus allen Teilen des Landes für die dringlichsten
Aufgaben der nationalen Wirtschaft, in erster Linie die Erntearbeiten,
heranzuziehen. In „Agrarstaaten" ist das viel schwieriger.

Wie mit so vielem anderen räumt der Krieg mit dem Märchen einer
„Abervölkerung" Deutschlands auf. Der deutsche Boden bringt nur einen

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