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Kunstwart und Kulturwart — 28,1.1914

DOI Heft:
Heft 3 (1. Novemberheft 1914)
DOI Artikel:
Düsel, Friedrich: Wie die Berliner Theater "mobilmachen"
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https://doi.org/10.11588/diglit.14418#0115

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Wie die Berliner Theater „rnobilmachen"

>^^ls Heinrich von Kleist (809 einem hohen preußischen Staatsmann
seine eben vollendete „Hermannsschlacht" zusendete, begleitete er
^(^die Abschrift mit den Worten: „Und wenn der Tag nns nun
völlig erscheint, von welchem Sie uns die Morgenröte heraufführen, so
will ich lauter Werke schreiben, die in die Mitte der Zeit hin«
einfallen." Wir wissen heute, was er damit meinte, und wie hoch-
sinnig er das Wort erfüllte selbst mit dem Wenigen, was das mißgünstige
Schicksal ihm zu vollenden vergönnte. Auch die Berliner Lustspiel-, Possen-
und Singspielfabrikanten, die unsre Bühnen mit ihren schnellfertigen
Aktualitäten überschwemmen, mögen die ehrliche Absicht haben, „in die
Mitte der Zeit" zu treffen, aber was sie zu Markte bringen, bleibt am
äußersten Rande der Begleitstimmungen oder kräuselt eben nur die Ober-
fläche dessen, was uns bewegt. Mit einer einzigen Ausnahme haben all
die Stücke von Krieg und Kriegsgeschrei, die ihr bißchen Handlung aus
den Tagen der Mobilmachung und den ersten siegreichen Schlachten
erraffen, vor dem tieferen Zeitgefühl ebenso schlecht bestanden wie
vor dem höheren Kunstgeschmack. Ob sich so ein eilig zusammengeleimtes
Stück nun „Anfang gut, alles gut" oder „Es braust ein Ruf" oder „Sieg"
nennt, ob Leute wie Iean Gilbert (jetzt zu Max Winterfeld umgetauft)
sentimentale Operettenmusik oder ernsthafte Komponisten gediegenere
Musik dazu machen, der einzige Gewinn, die einzige Hoffnung, die aus
diesen dutzendfachen Abwandlungen des Themas von der Spionenriecherei,
des Reservisten- und Extrablätterjubels, der Parteiversöhnung, der end-
lichen Belohnung des Guten und Brandmarkung des Bösen herausschaut,
ist eine zaghafte Stärkung der Volksstückelemente, die sich sonst kaum noch
auf unsern „künstlerischen Bühnen" zu zeigen wagten. Eine innere, lebens-
volle Beziehung zu den neugeborenen Kräften unsrer Zeit ward nir-
gends gewonnen. Man konnte an L'Arronges volle vierzig Iahre altem
Volksstück „Mein Leopold", das im Lessingtheater wieder auflebte, ohne
Mühe feststellen, daß diese seine verschämten, jetzt plötzlich aus dem Nest
gelockten Rachfolger heute noch in derselben kleingeistigen Gefühlsseligkeit
ohne Mark und Würze schwimmen, mit der unsre Väter (87H abgespeist
wurden. Rur daß man den Stücken von heute das „gute Herz" nicht
mehr glaubt, das Vater Weigelt noch ungestraft auf der Zunge tragen
durfte, und daß uns die selbstzufriedene Raivität abhanden gekommen ist,
die es den Gründerjahren erlaubte, alles, was sich in das Stück selbst
nicht organisch verarbeiten ließ, ihm kurzerhand als Couplet am Zeuge
zu flicken. Hans Brennert, eine nicht unerfreuliche Kreuzung von
Fontane und Kutschke, versuchte es, mit einem neuen frischfröhlichen
Landsturmduett auch hier „mobil" zu machen, aber es gelang nur in
dem platt humoristischen Sinne des Wortes, der sich mit der ernsten
Seelenstimmung dieser Wochen so schlecht verträgt. Vergleiche mit (870
frommen hier gar nicht. Damals half man sich mit rhetorisch-deklama-
torischen Prologen, mit bescheidenen epigrammatischen Einaktern, durch-
sichtigen Allegorien, die sich manchmal kaum mehr von den familien-
haften Lebenden Bildern unterschieden, und ließ sich schon im Oktober
des ersten Kriegsjahres an einer Bühne Hamburgs französische Schwänke
und Schauspiele vom Schlage des Meilhac-Halevyschen „Frou-Frou"
gefallen, nachdem man eben noch — kaum weniger erbärmlich — die
 
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