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Kunstwart und Kulturwart — 28,1.1914

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Heft 2 (2. Oktoberheft 1914)
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Zeugnisse der Zeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.14418#0087

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Zeugnisse der Zeit

Den„BankerottderChristen-

heit"

nennt Martin Rade in der „Christ-
lichen Welt" den gegenwärtigen
Krieg. Er meint damit natürlich
nicht den Bankerott der Kirche oder
des Christentums, sondern „jener
historischen Größe, die von Christi
Geburt an da ist und die sich immer
wieder dem Betrachter durchsetzte als
eine Cinheit, trotz aller kirchlichen
und konfessionellen Spaltung".
„Auch der schroffste Freigeist, der
profanste tzistoriker hat einen Be--
griff von christlichen Staaten gehabt
und bei Gelegenheit ganz unwillkür--
lich im Munde geführt den nicht--
christlichen Staaten, Nationen und
Kulturen gegenüber. Wir deutschen
Christen haben vor allem mit wach-
sender Cnergie uns mit den Christen
der übrigen Völker eins gefühlt in
der Mission. Von Iahrzehnt zu
Iahrzehnt, von Iahr zu Iahr wuchs
die Heidenmission aus ursprüng--
licher partikularistischer Cnge zu
einem Werke christlicher internatio--
naler Gemeinsamkeit empor, deren
letzte symbolische tzandlung die Cdin-
burgher Missionskonferenz war. Und
jetzt bekämpfen sich christliche Völker
an den KüsLen und im tiefen Innern
Afrikas angesichts und mit tzilfe der
schwarzen Rasse, rufen christliche
Staaten Iäpan zu tzilfe, unsre
deutsche christliche Kultur zu Boden
zu werfen. Ich zweifle nicht an Gott,
aber ich verzweifle an der Christen-
heit. Ihr Bankerott ist unabwend--
bar, er ist schon Tatsache. — Wenn
der Krieg vorüber ist, wollen wir
wieder klein anfangen. Cs wird
schwer sein. Aber mit Gottes tzilfe
muß es gelingen."

Cinst waren nicht nur Religionen,

sondern sogar einzelne Bekenntnisse
gruppenbildende Kräfte von welt--
geschichtlicher Bedeutung für die
Staaten. tzeut sind die religiösen
Verhältnisse nicht einmal mehr mit-
bestimmend für die Sympathien und
Antipathien der öffentlichen Mei-
nung. Man mache sich einmal klar,
was das geschichtlich bedeutet: das
streng protestantische England im
Bund mit der alten katholischen Vor-
macht Frankreich, dem orthodoxen
Rußland und dem buddhistischen
und shintoistischen Iapan. In
Deutschland und Österreich Prote-
stantismus und Katholizismus aufs
innigste vereint, und für den deutsch-
österreichischen Sieg beten die Tür-
ken in ihren Moscheen, an diesen
Sieg heftet sich die tzoffnung der
mohammedanischen Welt. Wieder-
um: die Franzosen, vielleicht auch
die Engländer, führen Mohamme-
daner in den Kampf gegen Deutsch-
land. Selbst tzindus wünschte Lord
Curzon siegreich durch die Straßen
Berlins reiten zu sehen.

Wir reden so oft verächtlich von
den Zeiten, da religiöse Bekennt-
nisse für Krieg und Frieden maß-
gebend waren, und schelten sie „un-
duldsam". Was für seelische Mo-
tive sind heut maßgebend? Geschäfts-
und Machtkonkurrenz, Racheverlan-
gen, bestimmte wirtschaftliche Wün-
sche, Rational- und Rassenhaß. Ist
das nun wirklich ein „Kulturfort-
schritt" und eine „tzöherentwick-
lung"? Wer das bejahen wollte,
müßte zum mindesten dartun, daß
wirtschaftliche und nationale „Rot-
wendigkeiten" höherwertig sind als
religiöse „Rotwendigkeiten^. Was
werden spätere Iahrhunderte über
die nationale und wirtschaftliche
„Unduldsamkeit" sagen?

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