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Kunstwart und Kulturwart — 28,1.1914

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Heft 6 (2. Dezemberheft 1914)
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Vom Heute fürs Morgen
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Zeugnisse der Zeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.14418#0280

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wundeten und die Ange-
hörigen unsrer Krieger ver-
w e n d e t.

Die Seele

icht wohnet nnsere Seele in die-
ser Zeit der irdischen Hütten im
Onellbrnnn GotLes, daß sie den Ouell

in der Selbstheit ergriffe, sondern
gleich wie die Sonne das Glas
durchscheinet, und das Glas doch
nicht zur Sonne wird, sondern wohnt
bei Sonne Geist und Kraft und
lässet die Sonne durch sich scheinen
und wirken: also anch die Seele in
dieser Zeit. Iakob Böhrne

Zeugnisse der Zeit

Reichskanzler Schmidt

ie amerikanische Wochenschrift
„The Independant" bringt einen
Rückblick aus dem Iahre auf
die Gegenwart, wie sie aussehn
würde, wenn nicht Bethmann
Hollweg dentscher Reichskanzler ge-
wesen wäre, sondern ein Hauptgenie,
tzerr „Schmidt". Die Betrachtung
ist ungemein lehrreich dafür, wie man
uns von „drüben" her sieht, lesen
wir sie also mit Geduld und Humor:

„Im Beginn des zwanzigsten
Iahrhunderts war Deutschland in
einer kritischen Lage. Frankreich
musterte seine Streitkräfte, um Elsaß-
Lothringen zurückzugewinnen, Groß-
britannien war eifersüchtig und
furchtsam, Rußlands Bevölkerung
vermehrte sich mit einer Schnellig-
keit, die ohnegleichen in der Ge-
schichte war. Deutschland hatte kei-
nen sicheren Verbündeten außer
Österreich-Angarn, und selbst bei dem
war nur ein Teil deutsch aus
Rasse oder Reigung und der deut-
schen Politik günstig. Hätte der Mi-
litarismus und die imperialistische
Bureaukratie das Land weiter be-
herrscht, in fünfzehn Iahren hätte es
eine Revolution gehabt, oder, noch
wahrscheinlicher, einen großen Krieg
mit einem erbitterten und terrori-
sierten Luropa, in dem die deutsche
Macht, so segensreich sie in mancher
Hinsicht für die Zivilisation ist, aus
der Weltpolitik verschwunden wäre.

Glücklicherweise wählte der Kaiser
einen zweiten Bismarck zum Kanz-

ler, aber einen mit liberaleren An-
schauungen und edleren Zielen. Herr
Schmidt von der Universität Iena
hatte die internationalen Bezie-
hungen gründlich studiert, er machte
nun einen Plan mit der Gründ-
lichkeit und Meisterschaft in der
Durchführung auch des Kleinsten, die
seinem Volke eigen sind, und hielt
ihn durch gegen Mißverftändnis und
Widerstand mit all der Tüchtigkeit
seines berühmten Vorgängers. Vor
allem betrachtete er den russischen
Despotismus als den größten Feind
der deutschen Kultur und überhaupt
aller freien Völker Europas. Der
Kanzler gab seine Absichten zuerst
im Sitzungssaal des Reichstags be-
kannt, während Rußland mit dem
japanischen Krieg beschäftigt war.
»Wen fürchten wir?« sagte er. »Seien
wir offen, Frankreich und Rußland.
Aber Frankreich hat eine bestimmte
Streitfrage mit uns, während die
russische Gefahr in einem grenzen-
losen Ehrgeiz besteht. Also opfern
wir unsern Stolz und machen wir
Frieden mit unserm westlichen Bru-
der, weil das Vaterland nur schwer
beide Grenzen verteidigen könnte —
im Osten ist nun einmal ein Feind,
dessenForderungenschrankenlossind.«

Vor dem verblüfften Reichstag
entwarf er eine neue Verfassung für
Llsaß-Lothringen, durch die diese
Provinz ein unabhängiges Land
wurde, neutralisiert durch dieMächte,
ein Glied des »Zollvereins« und
verpflichtet, weder gegen die fran-

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