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Kunstwart und Kulturwart — 36,2.1923

DOI Heft:
Heft 7 (Aprilheft 1923)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Die Tragödie des Naturalismus: zu Arno Holz' sechzigstem Geburttag
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https://doi.org/10.11588/diglit.14438#0024

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Liner längst verlotterten,

Abgetnkelten Asthetik:

Ansre Welt ist nicht mehr klassisch,

Ansre Welt ist nrcht romantisch,

Ansre Welt ist nur modern!

Modern! And was hiest das? Ls hieß: Lin Ende mit dem Jamben«
schwall, mit dem dichtende Arenkel-Epigonen Schillern gutgläubig kari«
kierten, fort mit Butzenscheibe und Säkkingerei, Tod der Geibelei, Baum--
bachiade, Wolffiade, Verderben über die Gutbürgerlichkeit „ästhetisch" gerei«
nigter Problemchen ä la Heyse^ Galle über die weltfremden Nach-Roman-
tiker, die armselige dünne Phantasie-Produkte in zuckersüße Versepen und
eine werchselige Lmpfindelei in abgeklapperte tzerz-Schmerz-Reime gießen!
Es hieß: Großstadt, Llend, Tritt der Arbeiterbataillone, Spelunke, Lisen-
bahn, Bahnhof, Industrie, soziale Frage, Volkskrankheiten, Vererbungs-
wahnsinn i Ls hieß: Fort mit euren faden Äberlieferungen von „Schönheit"
nnd Glätte, von edler Lmpfindung und sauber geordneten Flach- und tzoch-
Gedanken, reinlich-gepflegtem Familienleben und inniger Lintracht der
Gemüter! Es hieß: Konflikte! Gedankenfreiheit! Recht der Iugend! Natur-
wissenschaft! Wahrhaftigkeit und brutale Wirklichkeit! In den erwachenden
Chor eines ganzen Geschlechts, das sich, gepeitscht von Not und verlockt
von Verheißungen, die „herrliche, große, rauschende) unabsehbare, voll Milli-
onen Möglichkeiten steckende, die bittere, nackte, rauhe, mordreiche, qualvolle,
rätselhafte Wirklichkeit" eroberte, stieß der einundzwanzigjährige Arno tzolz
seine schmeLternden Fanfaren. Lr ahnte wohl kaum, nls er, der prachtvolle
Könner, „seine sich regende Wortkunst in diesen stilgerecht donnernden Rhyth-
men glorreich entlud", daß er sie selber wenige Iahre später mit leichtem
Bedauern halb und halb verleugnen werde,- und noch weniger mochte er
ahnen, welcher seltsam paradoxe literarische Lebenslauf mit diesem „Buch
der Zeit" anhob ...

Denn was war geschehen? und was geschah nun? Arno tzolz w!ar in eine
„Bewegung" hineingeraten, die zwar zuvörderst von Literaten, SchrifLstellern
und Dichtern getragen wurde, aber ihrem wirklichen Ausmaße nach keines-
wegs allein „literarisch" war; vielmehr erscheint der literarische Wirklich-
keitfanatismus umfassenderer Betrachtung beinahe nur als ein Symptom
einer allgemein-geistigen Bewegung und Strömung, die ihrerseits wieder
Spiegelbild und tzervorbringung entscheidender gesamtgesellsHaftliH-ge-
schichtlicher Wandlungen war. In ihr kündigte sich, ^so können wir heute
sagen, die tiefe Erschüttertheit der „bürgerlichen" Gesellschaft in heftigem
Stoße an. Moral, Gedankengut, Ideale und Lebensformen dieser Gesell-
schaft wichen immer gespenstischer und krasser ab von den Erkenntnissen der
Wissenschaft) von den Lehren wahrhaftiger Philosophie, von Hen Geboten,
die bei Strafe des Antergangs im praktischen Leben befolgt werden mußten.
von der Wirklichkeit selber, als welche sich immer klarer und unzweideutiger die
noch heute sichtbare europäische Gesellschaftstruktur etablierte. Lange verleug-
net, bekämpft, verabscheut, nie — und mit vollem Grunde nie! — frohenMw-
tes aufgenommen, durchaus widerwillig zuletzt anerkannt, hat die wirklich-
keitkündende, „realistische", naturalistische Literatur die ehemaligen Grund-
lagen bürgerlichen Lebens einmal stoßweise bis in die Fundamente hinein er-
schüttert; sie hat an dem tragischen Vorgang ihrer langsamen Relativierung,
Durchkränklichung, Auflösung und Iersetzung mitgearbeitet, das Lhaos von
Heute mit vorbereitet. Lhaos! denn freilich gelang der Bewegung weder
 
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