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Kunstwart und Kulturwart — 36,2.1923

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Heft 7 (Aprilheft 1923)
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Schumann, Wolfgang: Die Tragödie des Naturalismus: zu Arno Holz' sechzigstem Geburttag
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https://doi.org/10.11588/diglit.14438#0025

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d<rs eine noch das andere: weder versöhnte sie das herrschende oder das nnn
zur Herrschaft kommende Geschlecht mit der Wirklichkeit) die sie so anschaulich,
eindringlich und nachdrücklich darstellte, weder bekehrte sie diese Geschlechter
zu einer Welt-und Lebensauffassung, kraft deren sie sich mit dem Bestehenden
hattell abfinden, das Werderide Hätten billigen und mit lhm Frieden
schließen können; vielmehr blieb Zwiespalt durchwegs die Losung; noch wiesen
sie ihnen neue fruchtbare Ideale. Aber das Grzeugen oder Erweitern
bittererr Zwiespalts haben sie es nicht hinausgebracht, so wenig wie wir
Heutigen über den inneren und äußeren Zwiespalt hinaus find. Im Gegem
teil — das Schrifttum verlor sehr rasch seine ätzend zersetzende Schärfe,
wandte sich vom kriLisch^agitatorischen dem schildernd-abbildenden Realismus
und bald danach völlig anderen ästhetischen Idealen zu; ganz andere Kräfte
vollendeten das von ihm begonnene Zerstörungwerk, ja die Gesellschaft
erstarkte in wachsendem Wohlstand noch einmal zu einer Art Blüte, und
erst der Weltkrieg und die Revolution knickten diese bis in die Wurzel.
So liefen gewissermaßen die Wirklichkeitsucher und -künder von s88ö, s888,
MO hinter der Wirklichkeit, die auf rollendem Rad der Zeit entfloh, einher,
ohne sie einzuholen; ihre Wirkung und Tendenz durchdrang niemals den
Geist der Ration, sondern ward sektisch begrenzt. Ia, ihre Ziel«
strebigkeit versagte bald; die meisten aber der Iungen von damals
dürften das „Versanden" einer Bewegung, die sie mit getragen hatten,
nicht einmal schmerzlich empfunden haben, denn sie — kamen trotz«
dem .zu Erfolg. Sehr bald war man nicht mehr „modern", sehr
bald wieder „romanttsch" oder auch „neuklassisch" oder „symbolistisch"
oder sonst etwas, sehr bald erschienen die prophetisch entdeckten Ibsen,
Tolstoj, und vor allem Zola als vieux jeu, sehr bald — genug! Arno tzolz
indes erlebte eine ganz andere Tragödie. Von allen jenen Wirklichkeit-
suchern und --kündern war er der Einzige, dem die Aufgabe, Wirklichkeit
dichterisch zu packen und zu fassen, zum theoretifchen und brennenden Pro-
blem wurde. Wie „macht" man es denn, um wirklich und wahrhaftig die
Wirklichkeit dichterisch wiederzugeben? S o jedenfalls nicht wie Dilettanten
von M. G. Conrads Schlag oder andere Mitgänger der Bewegung es
machtem Selbst die Technik der großen Ausländer war unübertragbar.
Schreibend-experimentierend kam tzolz Lösungen der Aufgabe näher, die
schon Liefer durchfühlt waren als die ausländischen, die einzigen damals
bekannten wirklich anregenden Vorbilder. Dann aber nahm er jenen typisch
deutschen Umweg, der ihn nach langwieriger Arbeit zu einer Theorie der
ganzen Kunst führte, zu dem Buch „Die Kunst, ihr Wesen und ihre Gesetze".
Es ist die scheinklassische Theorie des Naturalismus, gipfelnd in dem Satz,
die Kunst habe „die Tendenz, die Natur zu sein" und werbe sie „nach Maß-
gabe ihrer Mittel und ihrer tzandhabung". Dieser Zentralsatz ist viel
bekämpst worden, meist mit einer geradezu verruchten Oberflächlichkeit,
Leichtfertigkeit und Dummheit, zuweilen auf lediglich kindische Weise, nur
ab und zu mit an sich richtigen Gedankengängen, die jedoch wiederum an
Holz vorübergingen, da nicht zuvor festgestellt wurde, was Holz unter den
vagen Ausdrücken „Äatur" und „Mittel" begriffen wissen wollte/ So ist das
Buch, dessen Wert eigentlich gar nicht in der selbstverständlich dürren und

* Diesen einfachen Sachverhalk gibt ohne es zu wollen sogar der einzige, übri-
gens sehr geistreiche Anhänger der Holzschen Lehre zu, der sich eingehend äußerte,
O. E. Lesstng. In seinern lesenswerten Buch „Die neue Forrn" setzt er breit,
indes nicht allzu klar auseinander, was „Natur" in der Holzschen Formel bedeute.
 
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