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Kunstwart und Kulturwart — 36,2.1923

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Heft 7 (Aprilheft 1923)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14438#0043

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gerade soviel, als er imstande ist, ern
Beispiel zu geben . . . Aber das Bei-
spiel muß durch das sichtbare Leben und
nicht bloß durch Bücher gegeben wer-*
den, also dergestalt, wie die Philoso-
phen Griechenlands lehrten, durch
Miene, Haltung, Kleidung, Speise,
Sitte, mehr als durch Sprechen oder
gar Schreiben". Diese Betrachtungs-
weise ist, so dünkt mich, die einzig mög-
liche. Es geht nicht an, die künstlerische
oder wissenschaftliche Leistung einer
Persönlichkeit losgelöst von ihrem Ge-
samtlebensprozeß zu betrachten; und die
Latsache, daß das Leben eines jedqn
Künstlers von einiger Bedeutung das
stärkste Interesse erregt, zeugt für den
natürlichen Instinkt der Gesellschaft, das
Werk aus dem Leben und natürlich auch
wieder das Leben aus dem Werk erklä-
ren zu wollen. Die schiefe Ginstellung,
die ich eingangs erwähnte, kommt daher,
daß man gewöhnlich die Lebensführung,
also letzten Gndes den Charakter eines
Geistigen mit „moralischen" Maßstäben
mißt. So sehr wir uns seit Metzsche,
wenigstens äußerlich, d. h. vor der L>f-
fentlichkeit, von der Philister-Moral zu
befreien versuchen, wir ertappen uns
doch immer wieder dabei, daß wir, so-
bald eine Beziehung auf unsere Persön-
lichkeit eintritt, moralisch kommen.
Schuld daran ist das Teildenken, —
wir vergessen immer wieder das Selbst-
verständlichste: daß eben alle Erschei-
nungen unseres Lebens miteinander zu-
sammenhängen und nur dann einiger-
maßen richtig gedeutet werden können,
wenn wir den lebendigen Sinnzusam-
menhang im Lluge behalten. Iedes
Menschen Leben entwickelt sich nach
nicht restlos enthüllbaren Gesetzen, die
wir meist nur als mannigfaltige Im-
pulse zu spüren bekommen. Diese Ge-
setze umfassen den ganzen Rmkreis un-
serer Lebensäußerungen von der primi-
tivsten Instinkthandlung bis zur höch-
sten Kunstleistung. Es besteht eine un-
zweifelhafte innere Einheit der Art, wie
ich meinen Hut trage, schreibe, spreche,
mich als Freund, Liebhaber oder Ehe-
mann gebärde, mit der Brt, wie ich
mein Kunstwerk oder meine Philoso-
pheme forme. Wenn ein Schauspieler,
der einen nach der Bürgermoral „leicht-
sinnigen" und vielleicht „charakterlosen"
Lebenswandel führt, sich dessen schämt,

ihn vor der öffentlichkeit wegzuleugnen
versucht, sich ein Mr würdevoller Bür-
gerlichkeit geben will, so beweist er da-
mit nur, daß er die völlige Abereinstim-
mung einer solchen Lebensweise mit der
durch seinen Beruf bedingten seelischen
Wandelbarkeit und körperlichen Reiz-
samkeit nicht erkannt hat. Ebenso, wie
der Philosoph sich oftmals ohne jeden
Grund durch die Witzeleien derer ange-
griffen fühlt,pie seineweltfremde,inprak-
tischen Fragen iversagende, an Äempera-
mentenausbrüchen und Exzessen arme
Lebensweise nicht als Ansdruck seines
rnnersten Wesens und als notwendige
Voraussetzung seiner Leistung erkennen.
Natürlich lassen sich unter Amständen
Werturteile aus der Lebensweise eines
Schaffenden ableiten, die vielleicht sogar
eine veränderte Einstellung zu seinem
Werk herbeiführen können, vor allem
was die innere Wahrhaftigkeit und
Echtheit der Leistung betrifft. Das Le-
ben des schöpferischen Menschen ist
Schlüssel und Maßstab zu seinem Werk,
das Werk, sofern es eine starke und po-
sitive Wirkung auslösen kann, „Necht-
fertigung" des Lebens. Dieses Leben
mag (Strindberg, Wedekind) im Lichte
der Bürgermoral noch so viel Verdänr-
menswertes enthalten, es ist der Mut-
terboden einer positiven, der Mensch-
heit zugute kommenden Leistung, Aus-
druck einer zählreiche Register spielen-
den symphonischen Persönlichkeit. Die-
selben Exzesse, in anderem Zusam-
menhang und von minder dämonischen
Menschen verübt, würden zweifellos
keine mögliche Grundlage oder Voraus-
setzung für eine wahrhaft geistige
Leistung bilden. In diesem Sinne wären
sie zwar immer noch biologisch und psy-
chologisch erklärbar, aber, insofern es
aus sozialen Gründen doch noch so
etwas wie eine Ethik geben muß, ver-
werflich. Das Leben des Schaffenden
muß, mindestens potentiell, ebenso ge-
sichtereich, ebenso von den gegensätzlich-
sten Möglichkeiten erfüllt sein wie sein
Werk. E. K. F.

Hrrmor

in Kunstwart-Leser schrieb uns:
„Seltsame Leute seid ihr immerhin,
ihr vom Kunstwart! Allenthalben zieht
sich durch eure Betrachtungen hin der
Gedankengang, wie ein starker'Charak-

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