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Kunstwart und Kulturwart — 36,2.1923

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Heft 8 (Maiheft 1923)
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Hartwig, Ernst: Von Wilhelm Heinrich Riehl
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https://doi.org/10.11588/diglit.14438#0079

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cruf den ersten Blick erkennbar als Lrzeugnis herzlich ahnungsloser Blick»
Lnge und weltfremder Romantik, wre die späteren Aufwärmungen besonders
der „ständischen" Gedankengänge es auch waren — sie haben sich ja bei
Dilettanten viel ärgeren Kalibers bis auf den heutigen Tag wiederholt.
Hundertmal widerlegt, erstehen solche Wunschphantasien bekanntlrch rn
schwachen Köpfen hundertundernmal zu rmmer erneutenr Schernleben; wer
vermöchte eines augenschwachen Herzens Sehnen in Wahrhert zu „wider-
legen" — ?

Würden wir solcher Art dem „Soziologen" Riehl — wenn dieses Wort
denn seine theoretisch-wissenschaftliche Bemühung rubrizieren hilft — allen-
falls eine stille Messe gönnen, warum reden wir dennoch von dem Manne?
Ie unumwundener wir zugestehen, daß er als Soziologe rn Wahrheit kaum
etwas galt und ganz gewrß nichts gilt, vielmehr nur mit schnerdender
Kritik gelesen werden sollte, umso nachdrücklrcher haben wir nun zu betoneng
daß er als „Volkskundler" oder sagen wir, um das anspruchvolle Wort zu
meiden, als Wanderer und Schilderer, Beobachter und Plauderer erne fast
einzigartige Begabung, Höchstens mit Fontane zu messen, gewesen rst.
War er außerstande, das große Bildgefüge, die entscheidenden Groß-
Züge der Zeit und der europäischen Entwicklung zu erfassen, so war
rhm rn seltsam ergänzender Widersprüchlichkert dazu doch verlrehen,
das einzelne Bild-Feldchen, dre kleineren Einheiten und Kräfte mit
einer Liebe und Klarheit zu sehen, die w.ie ein Vergrößerungsglas sein
Auge stärkten. Da ist etwa eine Studie „Die tzolledau" — auch in Zaunerts
Auswahl enthalten! —, Schilderung von Land und Leuten eines Stückes
bayerischen Landes bei Freising. So absonderlich nun auch die Sympathie«
Erklärungen des Wanderers für das grobe Ungeschlecht der dortigen Bauern
klingen, deren unsäglich plumpe Roheit und dumpfe Zurückgebliebenheit er
anderseits recht scharf kennzeichnet, so zwingend und gewinnend ist die
Schilderung als solche. Schlechthin ein Meisterstück! Bis zu Ludwig Thomas
Romanen, und zwar nur den besten davon, hat man so klar geschnittene
„Züge" in einer Volksschlag-Charakteristik schwerlich wieder erhalten, und
seither gewiß nicht. And auf dieses tzolledau-Bild, dessen Lief düstere „Prosa
der Beschränkung, des Stillstandes, der altväterlichen Derbheit und Grob«
heit" gewiß nicht der tzolledauer „tzumor", wie Riehl meint, wohl aber
Riehls eigener tzumor ein menig „verklärt", folgt in der Auswahl das
Bild „Rohrau", Bericht von einer Wanderung in Ioseph tzaydns eben noch
cisleithanische Heimat, und dieses wunderschöne, so stimmung- und gehalt-
volle wie lehrreiche Stück geschichtkundiger Ortsbeschreibung und andächtiger
Beobachtung gehört wahrhaftig zum Lebendigen des Schrifttums mehr als
viele lärmende Neuigkeiten. Daneben erinnern wir uns an Bauernland-
studien, Landschaftschilderungen, Charakteristiken „bürgerlicher" Art und
Sitte von Riehl, die alle gleicherweise, wo sie nicht in „Sozialpolitik" oder
„Soziologie" übergehen und entgleisen, das Gepräge einer ungewöhnlichen,
ja einzigartigen Gesellschaft- und Landschaft-„Porträtkunst" aufweisen.
Damit hatte der widerspruchvolle Mann gewiß Recht, daß er den Politikern
riet, mindestens in Gedanken nicht zu schematisieren, sondern nach Kräften
und aus purem Bewußtsein ihrer Verantwortung der geprägten Art der
mannigfachen Volksgruppen eingedenk zu sein und von ihr Kenntnis ßu
gewinnen. Man möchte wünschen, daß Riehl reiner den Typus des Schil-
derers verkörpert und das ständige Dilettieren in Politik gründlich von sich
abgetan hätte — ihm wäre vielleicht entscheidendere Wirkung vergönnt

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