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Kunstwart und Kulturwart — 36,2.1923

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Heft 8 (Maiheft 1923)
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Hartwig, Ernst: Von Wilhelm Heinrich Riehl
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https://doi.org/10.11588/diglit.14438#0080

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gewesen. Denkt man an die kommunistische Vergewaltigung des Bauern»
tums im heutigen Rußland, so drängt sich der Folgegedanke hinzu: hatten
diese Gewaltmänner doch ein wenig Riehlscher Volkskenntnis ihr eigen
genannt. Und auch im lieben Deutschland von O23 - - -

Wir sagten: die bürgerliche Art und Sitte charakterisierte Riehl mit
Glück. Das ist wahr, wie es anderseits wahr ist, daß er, selbst ein „Bür--
gerlicher", als Schilderer der Aristokratie versagt und etwa von einem
Fontane und später einem Wilhelm von Polenz bei weitem übertroffen wird.
tzeute, da die ganze Problematik des Bürgertums erneut tagfällig geworden
ist, lohnt es sich, in diesem Sinne an Riehl zu erinnern. Er schildert Bürger«
tum,- er ist inkarniertes Bürgertum. Immer wieder: abgesehen von seinen
kindlichen Tendenzen, als Charakteristiker nicht nur der ständischen Beden--
tung, sondern auch des menschlichen Gehabens, des geistigen und sittlichen
Gehaltes, des beruflichen Tuns und Treibens seiner Schicht, darüber Hinaus
als Bewahrer und ernstlich mahnender Sprecher der sittlichen Verpflichtungen
und Gehalte einer gefährdeten, sich selbst gefährdenden und bald nach Riehl
sich kopfüber verlierenden Schicht gewinnt er neben aller Liebenswürdigkeit
beinahe etwas wie Größe. Von links und rechts, von oben und unten, sehen
wir auch einmal ganz von allen politischen und wirtschaftlichen Strömungen
ab, nagt es am Bürgertum. Viele geben es preis, und das begreift sich.
Es begreift sich, weil man weiß, daß seine Vergangenheit ihnen nur aus
den verkommenen Resten bekannt ist, welche die Gegenwart davon bewahrt.
Für solche, die Hier tiefer sehen wollen — und wer wollte es nicht? — hät
Riehl um die letzte Iahrhundertmitte geschrieben. Der Menschheit Würde
war in ihre Hand gegeben!' so könnte man sagen von der Schicht, der sich
Riehl mit so kritischer Liebe und liebreicher Kritik zuwandte wie keiner an--
dern. Und kein anderer hat es empfunden wie er. Ernst Hartwig

Wir geben im folgenden einige kulturgeschichtliche Proben aus Riehl,
an anderer Stelle einige musikgeschichtliche.

^ie streng katholische Seite fühlt recht gut, daß Schiller und Goethe weit
^gefährlichere Träger und Verbreiter des protestantisch-bürgerlichen
Geistes waren als ganze Dutzende berühmter Theologen. Denn der Voll-
gehalt des modernen Geistes, insofern er in Gegensatz zu dem Mittelalter
tritt, ist ihr gleichbedeutend mit dem protestantischen Geiste. Sie fühlt, daß
Schillers und Goethes weltbürgerliche Philanthropie, der alle gesellschaft-'
liche Unterschiede überbrückende, dichterische und philosophische Äniversa-
lismus dieser Poeten, der gebildeten Schicht des Bürgertums erst recht das
Bewußtsein geweckt hat, daß der Bürger die Macht der sozialen Bewegung
sei. Täuschen wir uns nicht: diese Dichterfürsten waren die Apostel des in
seinem Bewegungs- und Ausgleichungsdrange mächtigen Bürgertumes,
ja wohl noch mehr: die Propheten des vierten Standes.

Der deutsche Bürger ist einer politischen und sozialen Schwärmerei, die
sich ihm als System und Lehre aufdrängt, unzugänglich, aber in Versen
mag er gerne mitschwärmen für Weltbürgertum und Sturz aller Standes-
unterschiede, für den nackten Menschen; und der stockreaktionäre Philister,
der in der Tat alle Freiheit und Gleichheit zum Teufel wünscht, klatscht
sich die Hände wund, wenn Don Iuan singt: „Hier gilt kein Stand, kein
Rame", und dann das Tutti in hell schmetternden Trompetentönen aufjubelt:
„Hoch soll die Freiheit leben!"

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