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Kunstwart und Kulturwart — 36,2.1923

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Heft 8 (Maiheft 1923)
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Hartwig, Ernst: Von Wilhelm Heinrich Riehl
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https://doi.org/10.11588/diglit.14438#0082

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staatlicher Auffassung der politisch, d. h. polizeilich, loyalste Bürger sein.
Welch erschreckender Widerspruch! Politisch und sozial nichts zu tun und
nichts zu sein ist kein Derbrechen, sondern eine Tugend im modernen Staate!
Aber man übersehe doch auch nicht: dieser Zug im Gesicht des modernen
Staates ist der wahrhaft hippokratische, der todverkündende. Wir haben
schon bei den Bauern wahrgenommen, wie unsere Regierungen fast nur ver-
neinend und austilgend einzugreifen wissen in das soziale Leben, nicht aber
positiv aus dem Individuellen entwickelnd und weiterbildend. Dem sozialen
Philister, welcher der Gesellschaft gefährlicher ist als der kommunistische
Proletarier, kann man nicht mit tzaussuchungen, Ausweisungen und Arre-
tierungen zu Leibe gehen, man kann nur mittelbar durch Schutz und Pflege
eines kräftigen und gesunden Gemeingeistes im Bürgertume das Aussterben
dieser Gruppe des entarteten Bürgertumes anbahnen.

Der täglich zehn Stunden an die Schreibstube, die Werkstatt, die Fabrik
gefesselte Beamte, tzandwerker oder Tagelöhner beneidet den Gelehrten,
den Staatsmann, den Künstler, am Ende gar den König selber, die allesamt
wenig oder gar nicht an solche feste Zeit gebunden iind. Er glaubt 'mehr
zu tun als diese, weil er einen so viel genaueren Maßstab seineK Fleißes
hat. Allein der mechanische Arbeiter, der seinen Fleiß genau nach Stunden
messen kann, Hat dafür ein unschätzbares Behagen voraus: den echten Feier-
abend und echte Feiertage. Für den eigentlich schöpferischen Mann dagegen
gibt es keinen Feierabend. Schon Kaiser Sigismund sagte in diesem Sinne:
„Die Esel haben es besser als die Fürsten; jenen lassen ihre Herren doch
wenigstens Ruhe und schonen sie, wann sie fressen; diese schont man zu
keiner Zeit."

Wahrlich mit Recht beneidet der beneidete freie Meister des Denkens und
Dichtens, der Kunst und Erfindung, des schaffenden Vorbildes in jedem Beruf
gar oft den gefesselten Tagelöhner, welcher freilich Stunde um Stunde im
Schweiße seines Angesichts arbeiten muß, dann aber auch unbedingt sein
Werk beschließt, wann die Abendglocke schallt. Den schaffenden Geist begleitet
die Arbeit der Gedanken, wo er geht und steht, er legt sich mit ihp schlafen
und wacht wieder auf mit ihr, er kann sie wohl gar im Traume nicht los
werden; für ihn gibt es nur einen echten Feierabend — im Tode. Und wenn
er auch nur mäßig, wählerisch, scheinbar spielend arbeitet: die Härteste, auf-
reibendste Arbeit.ist doch wohl, die keinen Abschluß kennt, keinen Feier-
abend. Manche eigentümliche Gelehrtenkrankheit der Nerven, des Blutes
und Gehirns, die man gemeinhin aus dem Stillesitzen und der Stubenluft
herleitet, wurzeln gewiß nicht minder darin, daß der schaffende Kopf keinen
Feierabend findet und so aüch die leiblichen Organe des Denkens,und Emp-
findens unglaublich rasch abnutzt. Aber nicht bloß Denker, Dichter und
Künstler: jeder schaffende,Meister — und wäre er ein Bankier, dem die
Dichter Geiger sind —, jeder Gründer und Lenker großer Unternehmungen
arbeitet so ruhelos. Dies sind die Leute, welche gar keine besondere Arbeits-
zeit haben, weil ihnen alle Zeit zur Arbeitszeit wird. Gesellenfleiß ist nach
der Zeit meßbar, nicht aber Meisterfleiß.

Freilich ist den zeitlosen schöpferischen Arbeitern auch wieder ein Ersatz
gegeben: bei ihnen birgt die Mühsal der Arbeit in sich schon Genuß, wäh-
rend in den gemessenen Stunden des mechanischen Arbeiters fast nur die
Mühsal steckt und erst nachher in der Feierstunde der Genuß der Arbeit
anhebt.

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