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Kunstwart und Kulturwart — 36,2.1923

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Heft 8 (Maiheft 1923)
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Hartwig, Ernst: Von Wilhelm Heinrich Riehl
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https://doi.org/10.11588/diglit.14438#0083

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ie Lntstehung der Sitte vergleiche ich mit der Entstehung des Volksliedes.
Kein Volkslied hat einen bestimmten nennbaren Verfasser. So lange man
einen solchen noch kennen kann, ist das Lied anch kein wirkliches Volkslied
geworden. Nur das Volk selber macht Volkslieder. Allein ein Einzelner muß
doch der erste Arheber gewesen sein? Ganz gewiß. Andere bildeten ^rber
sein Lied weiter; ganze Generationen modelten es aufs neue um, so daß
immer wohl Llemente des ursprünglichen Liedes blieben, aber auch so viele
neue, an denen tzunderte mitgearbeitet, hinzukamen, daß zuletzt niemand
mehr sagen kann, wer eigentlich das Lied gemacht hat. Wüßte man auch den
Namen des Autors, so täte das gar nichts zur Sache. Das Lied ist sein Lied
nicht mehr. Es sind hundert neue Lieder daraus Hervorgewachsen, an welche
hundert weitere Sänger Ansprüche haben, und als die Quintessenz dieser
hunderr Lieder erscheint zuletzt die eben geltende neueste Fassung als Volks«
lied. In fünfzig Iahren wird aber auch diese wieder in eine ander-e umge-
bildet worden sein. So entsteht und wächst das Volkslied, und ganze Gene-
rationen sind sein Dichter und Komponist gewesen.

Ahnlich geschieht es mit der Sitte. Line Sitte kann niemals von einem
Linzelnen willkürlich gemacht werden: Sie wird und wächst wie das Volks-
lied. Line von einem Linzelnen geschaffene Linrichtung wird erst zur Sitte,
indem sie sich durch eine Reihe von Geschlechtern festsetzt, erweitert und fort-
bildet. Etymologisch ist dies angedeutet in den mit Sitte häufig gleichbe-
deutend genommenen Wörtern „Brauch" und „Herkommen". Die Sitte
wird sokchergestalt zu dem natürlichen, organischen Produkt einer ganzen
Kette menschlicher Lntwicklungen, und das Vorurteil, daß eine Sitte schon
darum gut sei, weil sie sehr alt, ist in der Regel nicht unbegründet. Lin.
Volkslied muß auch alt sein, sehr alt, um recht und gut zu seim Lin „ganz
neues Volkslied" ist eigentlich ein Ansinn. Denn ein solches Lied könnte wohl
im Volke gesungen werden, aber es kann ntcht im Volke gemacht sein; dazu
braucht es Zeit. ^ ^

it der „ganzen Familie" hängt das „ganze tzaus" zusammen. Die mo-
derne Zeit kennt leider 'fast nur no.ch die „Familie^, nicht mehr 'das
„tzaus", den freundlichen, gemütlichen Begriff des ganzen tzauses, welches
nicht bloß die natürlichen Familienglieder, sondern auch alle jene freiwilligen
Genossen und Mitarbeiter der Familie in sich schließt, die man vor alters
mit dem Worte „Ingesinde" umfaßte. In dem „ganzen tzause" wird der
Segen der Familie auch auf ganze Gruppen sonst familienloser Leute erstreckt,
sie werden hineingezogen, wie durch Adoption, in das sittliche Verhältnis
der Autorität und Pietät. Das ist für die soziale Festigung eines ganzen
Volkes von der tiefsten Bedeutung.

^ie Architektur des modernen Wohnhauses ist das steinerne Sinnbild der
^erlöschenden Idee vom „ganzen tzause".

Die besseren städtischen Bürgerhäuser aus dem sechzehnten und sieb-
zehnten Iahrhundert öffnen dem Eintretenden sogleich große tzausfluren,
Vorplätze und tzöfe. tzaufig ist das ganze Erdgeschoß lediglich Vorhalle;
die Wohnungsräume beginnen erst im ersten Stock.

Diese großen Vorplätze waren aber allen tzausgenossen zur gemeinsamen
Benutzung; sie sind gleichsam die Allmende des „ganzen Hauses". Dasselbe
gilt von den traulichen Galerien und bedeckten Gängen, welche gegen den
innern tzofraum oft durch alle Stockwerke gingen. tzier soll man sich ver-
sammeln und ergehen können, hier sollen die Kinder beim Regenwetter
sich tummeln und spielen.. In der warmen Iahreszeit tafelte das ganze Haus

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