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Kunstwart und Kulturwart — 36,2.1923

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Heft 10 (Juliheft 1923)
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Von Bernard Shaw
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https://doi.org/10.11588/diglit.14438#0170

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muß von den gebundenen Füßen gewußt haben, auch wenn er Nlchts von
den Verstümmelungen, dem Stutzen der Ohren und Schwänze wußte, die
Hunde- und Pferdezüchter an vielen Generationeir der unglücklichen Trere
vornehmen, mit denen sie zu tun haben. Eine so erstaunliche Blindheit
und Dummheit bei einem Manne, der von Natur aus weder blind noch
dumm war, ist ein schlagendes Beispiel für das, was Darwin unabsichtlich
dem Geist seiner Iünger antat, indem er ihre 'Aufmerksamkeit so ausschließ«
lich auf die Rolle lenkte, die Zufall und gewaltsames Lingreifen in der Lvo-
lution spielen, unter völliger Ausschaltung von Leiden und Gefühl.

Eine gründliche Ersassung der Evolution würde Weismann gelehrt
haben, daß biologische Probleme nicht durch Angriffe auf Mäuse gelöst
werden können. Die wissenschaftliche Form seines Lxperiments hätte etwa
folgendermaßen aussehen sollen. Zunächst hätte er eine Kolonie von Mäu-
sen beschaffen sollen, die für hypnotische Suggestion hoch empsänglich
waren. Dann hätte er ihnen die glühende Aberzeugung suggerieren müssen,
daß das Schicksal der Mäusewelt von dem Verschwinden ihres Schwanzes
abhinge, so wie irgend ein alter und vergessener Experimentator die Katzen
von der Insel Man überzeugt zu haben scheint. Nachdem er so in den
Mäusen den Wunsch erregt hätte, um jeden Preis ihre Schwänze zu ver-
lieren, würde er sehr bald erlebt haben, daß einzelne Mäuse mit kurzem
oder gar keinem Schwanz geboren wurden. Diese würden von den andern
Mäusen als höhere Wesen anerkannt und bei der Verteilung der Nahrung
und bei der Sexualauslese bevorzugt worden sein. Schließlich würde die
geschwänzte Maus als Angeheuer von ihren Genossen zum Tode verurteilt
und das Wunder der schwanzlosen Maus völlig erreicht worden sein.

Der Linwand gegen dies Lxperiment besteht nicht darin, daß es zu spaß-
haft erscheint, um ernst genommen zu werden, und daß es nicht grausam
genug sei, um auf den Pöbel Eindruck zn machen, sondern einfach darin,
daß es unmöglich ist, weil der menschliche Lxperimentator die Seele der
Mäuse nicht beeinflussen kann. Und das ist der Fehler bei allen unsrucht-
baren Grausamkeiten der Laboratorien. Darwins Nachfolger hatten keinen
Gedanken hierfür übrig. Ihr einziger Forschungstrieb war, die,„Natur"
nachzuahmen, indem sie gewaltsame und sinnlose Grausamkeiten verübten
und ihre Wirkung beobachteten, mit einem lähmenden Fatalismus, der sie
hinderte, auch nur im geringsten ihren Geist zu gebrauchen an Stelle ihrer
Messer und ihrer Augen, und die abscheuliche Tradition schuf, daß der
Mensch, der nur einen Augenblick zögert, ebenso grausam zu sein wie die
zufällige Auslese, ein Verräter an der Wissenschaft sei. Denn Weismanns
Experiment mit den Mäusen war ein bloßer Spaß im Vergleich mit den
Scheußlichkeiten, die andere Darwinisten begingen, um zu beweisen, daß
Verstümmelungen nicht übertragen werden könnten. Ohne Zweifel waren
die schlimmsten dieser Experimente überhaupt keine wirklichen Experimente,
sondern lediglich Grausamkeiten, begangen von grausamen Menschen, die
sich zum Laboratorium hingezogen fühlten, weil es ein geheimer Zufluchts-
ort war, den das Geseh und der öffentliche Aberglaube dem Liebhaber der
Folter gelassen hatten. Es liegt aber kein Grund vor, Weismann des Sadis-
mus zu verdächtigen. Mehreren Generationen von Mäusen die Schwänze
abzuschneiden, bietet nicht Wollust genug, um einen wissenschaftlichen Nero
in Versuchung zu führen. Es war nur eine Handlung von Einäugigkeit,
und Darwin war es, der Weismann das menschenfreundliche und empfind-
same Auge ausgestochen hatte. Er blendete noch viele andere Augen und
 
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