Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 4.1924

DOI issue:
Heft 1
DOI article:
Je cherche après Titine
DOI issue:
Heft 2
DOI article:
Alexander, E.: Der Deserteur
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.62257#0154

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
entkleideten modernen Deserteur entgegenbrachte, war ein geringes. In den Zeiten
der geworbenen Heere, insbesondere im 18. Jahrhundert, wo in den meisten deutschen
Staaten das Soldatenmaterial aus landfremden, zum Teile sittlich verkommenen
Elementen bestand, die nur eine bis zur Brutalität harte Disziplin zügeln konnte,
war die mit den schwersten Freiheits- und Leibesstrafen, selbst mit dem Tode ge-
pönte Desertion ein das Gemüt der Mitmenschen tief berührendes Ereignis.
Hart war damals das Soldatenlos. Der Angeworbene wußte oft gar nicht, wie er
zu den Fahnen kam. Als Handwerksbursche war er irgendwo verkleideten Werbern
in die Hände gefallen; trunken gemacht oder durch irgendeine andere List verführt,
hatte er sich das Handgeld aufschwatzen und die Patronentasche umhängen lassen.
Und als der nüchterne Morgen kam, war er Soldat. Besonders die preußischen
Werber, die für ihre zum großen Teile aus Ausländern bestehende Armee Rekruten
schaffen mußten, waren durch ihre Geschicklichkeit berüchtigt. Die Österreicher
trieben es milder. Strenge Befehle verboten zwar die Anwendung unlauterer Mittel
bei der Anwerbung, doch blieben sie gar oft unbefolgt. Wenn es dem Rekruten nicht
gelang, auf dem Transport in die Garnison zu entweichen, so war er wohl nach
menschlicher Voraussicht für den größten Teil seines Lebens dem bunten Rock ver-
fallen. Strenge Strafen bedrohten die Begleitmannschaft, die einen der um teueres
Geld mühevoll erworbenen jungen Krieger entkommen ließ. Einem Berliner Gouver-
nementsbefehl vom Jahre 1804 ist ein solcher Fall zu entnehmen: »Da bei dem
letzten Rekrutentransport von hier nach Müncheberg zwei Rekruten entsprungen und
man derselben nicht wieder hat habhaft werden können, so sollen beide Unteroffiziers,
weil sie nicht die gehörige Attention beobachtet, mit sechstägigem Arrest und jeder
mit dreißig Fuchteln (Züchtigung mit der Degenklinge), die beiden Gemeinen aber,
welche bei dem Wagen kommandiert waren, von welchem der sich als malade an-
gegebene Rekrut entsprungen ist, sollen mit viertägigem Arrest und jeder mit fünf-
undzwanzig Stockprügel bestraft werden.« — Glücklich bei seiner Kompagnie an-
gelangt, wurde dem jungen Soldaten in anstrengender Drillarbeit die komplizierte
Technik des damaligen Gamaschendienstes mit seinen zahllosen Feinheiten — gab
es doch zur Zeit des siebenjährigen Krieges über hundert Gewehrgriffe — bei-
gebracht. Bei der Ausbildung der vier oder fünf Rekruten, die bei einer Kompagnie
alljährlich eingestellt wurden, mußten nebst den abrichtenden Unteroffizieren sämt-
liche Offiziere der Kompagnie anwesend sein, so daß in der Regel mehr Lehrer als
Schüler den Exerzierplatz bevölkerten. Da die Kasernen noch selten waren, kam der
Soldat zumeist in Bürgerhäuser ins Quartier; Rekruten und unverläßliche Leute
wurden über Nacht unter Aufsicht von im Dienst ergrauten sicheren »Gemeinen«
gestellt. Außerhalb der Stadtmauern durfte sich der Soldat nur mit einem Paß blicken
lassen, und einen solchen erhielten nur wenige. Ein Entfliehen vom Posten war durch
besondere Vorsichtsmaßregeln erschwert. So standen in geschlossenen Orten und
Festungen die Schildwachen in Ruf- und Sehweite voneinander entfernt und mußten
sich während der Dunkelheit durch ein fortwährendes: »Halt, wer da? Patrouille
vorbei!« munter erhalten. Desertierte ein Posten, so wurden die Zunächststehenden
bestraft. Wachthabende, die einen Mann ohne Kontrolle durchs Tor gehen ließen,
erhielten zwölfmaliges Spießrutenlaufen zudiktiert. Die Fluchtmöglichkeiten waren
demnach sehr gering, wenn nicht aussichtslos. Und doch fanden die des stock-
schwingenden Gamaschendienstes überdrüssigen oder einen anderen Fahnendienst
anstrebenden, handgeldlüsternen »Kerls« oft Mittel und Wege zur Desertion. Ins-
besondere krankte an diesem chronischen Übel das preußische Heer, das nach Urteil
eines Zeitgenossen in seinen Reihen zum großen Teile Menschen führte, die »von
Durst nach Freiheit und Rache erfüllt waren«. Spricht doch selbst Scharnhorst, der

108
 
Annotationen