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Zeitschrift für christliche Kunst — 25.1912

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Münzel, Gustav: Die Zeichnung Grünewalds: Der Kopf mit den drei Gesichtern, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4342#0141

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243

1912. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 7.

244

noch eine besondere Bedeutung innewohnt.
Dieses ist tatsächlich der Fall. Grünewald
gab das Teufliche nicht wieder in irgendeiner
beliebigen Gestalt, sondern diese Personifi-
kation des Bösen baut er auf einer Darstel-
lung der drei bösen Grundgelüste des
Menschen auf.

Die Scholastik sah als wirkende Ursache
(causa efficiens) der Sünde den
freien Willen des Menschen an.
Was aber als die vorzüglichste
Bestimmung des freien Willens
zur Sünde wirkt, als causa occa-
sionalis, ist die unordentliche Be-
gierlichkeit, die selbst aus der ersten
Sünde stammt. Dieses grund-
legende sündhafte Begehren offen-
bart sich nach einer Stelle bei
dem der Zeit Grünewalds be-
sondere Anregungen gebenden
Apostel Johannes in drei Rich-
tungen: der Fleischeslust (con-
cupiscentia carnis), der Augenlust,
worunter die Habsucht verstanden
wird (concupiscentia oculorum), und
der Hoffart des Lebens (superbia
vitae).20)

Abb.

'">) Die entscheidende Stelle in der
Bibel lautet 1. Job.. 2, 16: oll näv ro
av z(ii xinuii), rj i7it9vfiia zij?
nagxo;, xai rt iniSvfiia xwv
6<p&a'ku(iiv, xai q liXa^ovefet
loü ß(ov, ovx eoviv ix iov
Tiargog. iik).' ex tov xön/uov
ioii. Im Mittelalter wurde die
Lehre theologisch ausgebaut.
Thomas von Aquino erörtert die
Frage nach den Ursachen der
Sünde ausführlich in der Summa
theologiae IL 1. quaestio 77
art. V: Utrum convenienter ponan-
tur causae peccatorum concuspis-
ccntia carnis, concupiscentia ocu-
lorum et superbia vitae. Nach
Untersuchung der Begriffe, des
inordinatus amor sui, dem der
inordinatus appetitus boni eingeschlossen ist, nach Ein-
teilung des bonum als objectum concupiscibilis und als
objectum irascibilis und der Zweiteilung der concupis-
centia in eine concupiscentia naturalis und concupiscen-
tia animalis kommt er zum Ergebnis: Et sie patet,
quod ad ista tria reduci possunt omnes passiones, quae
sunt causa peccati: nam ad duo prima (seil, ad con-
cupiscentiam carnis et coneupiscentiam oculorum) re-
dueuntur omnes passiones concupiscibilis, ad tertium
autem (seil, ad superbiam vitae) omnes passiones ira-
scibilis, quod ideo non dividitur in duo: quia omnes
passiones irascibilis naturaliter conformantur coneu-

Abb. 8. Schergen a. d. Kreuz
tragung, Karlsruhe.

Und diese drei bösen Grundbegierden des
Menschen sind von Grünewald als Konsti-
tuenten des satanischen Wesens in seiner
zur Einheit verbundenen Dreiheit genommen
worden. Das mittlere Gesicht ist die Hoffart,
das linke, vom Beschauer aus, die Fleisches-
lust, das rechte die Habsucht. Die Physio-
gnomik der drei Gesichter führt ohne weiteres
zu dieser Deutung.

Das mittlere Gesicht ist von
äußerster Hagerkeit, die Dürre
des Geistes wird durch körperliche
Dürre symbolisiert. Die ausge-
arbeitete hohe Stirn, Zeichen
geistiger Begabung, wird in ihrer
Bedeutung desavouiert durch den
Ausdruck der Augen, des Mundes
und des Kinns. Gefaßt ist das
Gesicht in dem Moment, wo dem
selbstgerechten Stolz die Gefahr
einer Demütigung vorschwebt.2')
Daraus erklärt sich der lauernde,
stechende Blick der tiefliegenden
Augen, der zusammengekniffene
Mund, das sich mit seiner eckigen,
harten Bildung wie eine Mauer
vordrängende Kinn und die scharf
gebogene, herausspringende Nase.
Alle Formen des Gesichts haben
das Knochige, Spitze, Ab-
weisende — das sich sogar
auf Ohren und die strähnigen
Haare erstreckt — wie es ein
Charakter hat, der stets nur
mit sich und seiner Bedeutung
beschäftigt, gegen jeden An-
griffdarauf aufder Lauerliegt.

Abb. 4. Scherg

Verspottung, München

piscentiae animali. — Von
Neueren: Simar, Moraltheologie.
Freiburg 1893. S. 188 und 304.
21) Unter den verschiedenen
Ausdrucksformen des appetitus
inordinatus excellentiac, worin nach
der Definition des Thomas die superbia besteht, wählt
Grünewald den geistigen Hochmut, weil dieser ein be-
sonders charakteristisches und nuancenreiches Objekt ist.
Das Herauswachsen des Neides aus dem Stolze basiert auf
einer alten Anschauung. Die Theologen erblickten
den Grund zum Abfall der Engel von Gott in dem
Laster des Stolzes. Die Meinung, daß es der Neid
gewesen sei, widerlegte Augustinus mit dem Hinweis
darauf, daß der Neid aus dem Stolze hervorgehe.
Augustinus, De Genesi ad litteram lib. II, 11: super-
biendo igitur invidus, non invidendo quisque super-
bus est.
 
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