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Hillebrand, Karl: Zur Entwicklungsgeschichte der abendländischen Weltanschauung
DOI Page / Citation link:https://doi.org/10.11588/diglit.52690#0109
Jur Entmicklungsheſchichte der abendländiſchen Welt-
anſchaunug.
Von
Karl Hillebrand.!
Wir dürfen das mittelalterliche Europa als eine große Familie
betrachten, die eine Zeitlang glaubte, fie fönne für immer unter
einem Dache wohnen und gemeinſam an dem großen Werk der
Civiliſation arbeiten. Eine Sprache — die lateiniſche, ein Glaube
— der katholiſche, ein Geſetz — das römiſche, ein Souverän —
der Kaiſer — ſollten die Oberherrſchaft führen und allen Gliedern
der Familie Schirm gewähren. In Wirklichkeit wurde dieſes Ideal
nie völlig erreicht. Aber' es beherrſchte die Gemüter das ganze
Nittelalter hindurch, und noch in ſpäteren Zeiten hielt es gewiſſe
Geiſter gefangen, die nach Einheit und Ordnung dürſteten uuͤd
nicht imſtande waren, ſie in der Mannigfaltigkeit und der Freiheit
zu finden. Das Geſetz der Natur waͤr gleichwohl ſtärker als die
Geſetze der Menſchen: Europa entwuchs dem Stammhaus, ſo
Lräumig es gebaut ſchien. Kaum hatte jeder Herd ſeine eigene
Familienſprache, ſo wünſchten auch ſchon die um ihn Verſammelten,
den Gedanken und Gefühlen ihres alltäglichen wie ihres höheren
Lebens in dieſer Sprache Luft zu machen. An dem Tag, an
welchem ein philoſophiſcher Gedanfke in nationaler Sprache aus—
gedrückt wurde, hatte jene Teilung Europas begonnen, aus welcher
ſich während des 15. Jahrhunderts die nationalen Monarchien
von England, Frankreich und Spanien, die italieniſche Renaiſſance
und die Reformation in Deutſchland entwickelten.
Dieſer Aufſatz des zu früh dahingeſchiedenen Hiſtorikers und Kritikers
erſcheint hier zum erſtenmal in deutſcher Sprache mit Zuſtimmung ſowohl des
engliſchen Verlegers als des Herrn R. Oppenheim in Berlin, Letzterer wird
demnächſt als 7. Band der „Zeiten, Völker und Menſchen“ 26 handſchriftlich
hinterlaſſene, dem deutſchen Publikum bisher unbekannt gebliebene Arbeiten Hille—
brands in ſeinem Verlage zur Veröffentlichung bringen! D. Red.
Zeitſchrift für Allgem. Geſchichte ec., 1885. Heft II. 7
anſchaunug.
Von
Karl Hillebrand.!
Wir dürfen das mittelalterliche Europa als eine große Familie
betrachten, die eine Zeitlang glaubte, fie fönne für immer unter
einem Dache wohnen und gemeinſam an dem großen Werk der
Civiliſation arbeiten. Eine Sprache — die lateiniſche, ein Glaube
— der katholiſche, ein Geſetz — das römiſche, ein Souverän —
der Kaiſer — ſollten die Oberherrſchaft führen und allen Gliedern
der Familie Schirm gewähren. In Wirklichkeit wurde dieſes Ideal
nie völlig erreicht. Aber' es beherrſchte die Gemüter das ganze
Nittelalter hindurch, und noch in ſpäteren Zeiten hielt es gewiſſe
Geiſter gefangen, die nach Einheit und Ordnung dürſteten uuͤd
nicht imſtande waren, ſie in der Mannigfaltigkeit und der Freiheit
zu finden. Das Geſetz der Natur waͤr gleichwohl ſtärker als die
Geſetze der Menſchen: Europa entwuchs dem Stammhaus, ſo
Lräumig es gebaut ſchien. Kaum hatte jeder Herd ſeine eigene
Familienſprache, ſo wünſchten auch ſchon die um ihn Verſammelten,
den Gedanken und Gefühlen ihres alltäglichen wie ihres höheren
Lebens in dieſer Sprache Luft zu machen. An dem Tag, an
welchem ein philoſophiſcher Gedanfke in nationaler Sprache aus—
gedrückt wurde, hatte jene Teilung Europas begonnen, aus welcher
ſich während des 15. Jahrhunderts die nationalen Monarchien
von England, Frankreich und Spanien, die italieniſche Renaiſſance
und die Reformation in Deutſchland entwickelten.
Dieſer Aufſatz des zu früh dahingeſchiedenen Hiſtorikers und Kritikers
erſcheint hier zum erſtenmal in deutſcher Sprache mit Zuſtimmung ſowohl des
engliſchen Verlegers als des Herrn R. Oppenheim in Berlin, Letzterer wird
demnächſt als 7. Band der „Zeiten, Völker und Menſchen“ 26 handſchriftlich
hinterlaſſene, dem deutſchen Publikum bisher unbekannt gebliebene Arbeiten Hille—
brands in ſeinem Verlage zur Veröffentlichung bringen! D. Red.
Zeitſchrift für Allgem. Geſchichte ec., 1885. Heft II. 7