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Zeitschrift für allgemeine Geschichte, Kultur-, Litteratur- und Kunstgeschichte — 2.1885

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Weilen, Alexander von: Der Graf von Gleichen in deutscher Dichtung und Sage
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https://doi.org/10.11588/diglit.52690#0454

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Der Graf von Gleichen in drutſcher dichtung und Sage,
Von
Alexander von Beilen.

Grabſteine reden! Sie zeugen durch Wort und Bild von den Großthaten
derjenigen, die unter ihnen ſchlummern; doch oft wird ihre ſtumme Sprache
unverſtändlich, und der Beſchauer ſucht dann mit Hilfe ſeiner Phantaſie nach
einer Auslegung, gewöhnlich der abenteuerlichſten und unwahrſcheinlichſten.

Ein ſolcher Prozeß der ſchaffenden Geiſtesthätigkeit las aus dem Erfurter
Grabdenkmale, das einen Grafen von Gleichen zwiſchen zwei Frauen ruhend
zeigt, die ſpäter vielerzählte Sage von ſeiner kirchlich erlaubten Bigamie heraus.
Nur eine derartige Entſtehung macht es begreiflich, daß die erſten ſchrift—
lichen Nachrichten nicht vor der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf—
tauchen, da das Grabmal nachweislich erſt Ende des 15. Jahrhunderts errichtet
wurde, das, um es nebenbei zu erwähnen, in Wahrheit die Leiche Sigismunds I.
von Gleichen (+ 1494) mit jeinen beiden Gemahlinnen erſter und zweiter Ehe
bergen ſoll. In welcher Weiſe es zuging, daß dieſer unſchuldige Ritter zum
Helden eines ſo unſittlichen Verhältniſſes gemacht wurde, läßt ſich ſchwer ergründen:
man mochte ſich daran erinnern, daß wirklich ein Graf von Gleichen in den
Kreuzzug gezogen war, und der eigentümliche Kopfſchmuck einer der beiden Frauen—
geſtalten, noch dazu mit einer Krone, wie fürſtliche Gemahlinnen ſte damals
öfter trugen, ließ ſie wohl als ausländiſche Prinzeſſin erſcheinen. Und dieſe
Sage, vielleicht angeregt durch Motive des altfranzöſiſchen Romans Gilion
de Traſignyes, wo der Mann ſowie die beiden Frauen ſich ins Kloſter zurück—
ziehen, zählt bald nach ihrer mutmaßlichen Entſtehung zu den populärſten und
meiſt geglaubten Erzählungen, und die Feſtſtellung der wirklichen Thatſachen
hielt ſeit Beginn des 18. Jahrhunderts viele Gelehrte in Atem, die ſogar für
die Tugend der Orientalin, die ein gewiſſer Falckenſtein anzuzweifeln gewagt
hatte, ihr ſchwerſtes Geſchütz gegen den Frevler auffahren ließen. Erſt die
neuere Zeit hat ſich eine unparteiiſche Kritik der Sage angelegen ſein laſſen,
deren Ergebniſſe Dr. L. Heſſe im erſten Bande des Archivs für ſächſiſche Geſchichte
niedergelegt hat. Demſelben Forſcher danken wir ein bibliographiſches Ver—
zeichnis ſämtlicher darauf bezüglicher Schriften.
 
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