Die Entwidelung unferer bürgerlichen Ireiheit,
Studien zur alten und neuen Geſellſchaftsgeſchichte.
Von
Ehriſtian Aener.
J. Einleitung. Aelteſte germaniſche Zuſtände. Wanderleben.
Die Geſchichte der Stände und unſerer geſellſchaftlichen Einrich—
tungen gehört zu den lange unbeachtet gebliebenen Gebieten unſeres
geiſtigen Lebens. Es hängt dieſe Vernachläſſigung in erſter Reihe
zuſammen mit der auf Aeußerlichkeit gerichteten Tendenz unſerer
früheren Geſchichtſchreibung; ſie hat aber auch noch zwei andere
Gründe. Weniger geräuſchvoll als politiſche Begebenheiten pflegen
die Veränderungen des ſocialen Lebens vor ſich zu gehen. Sie finden
nicht in einem plötzlich eintretenden, alle Augen auf ſich ziehenden
Ereigniſſe ihren Ausdruck, und ſelbſt dem Hiſtoriker, der auf größere
Zeiträume zurückblickt, wird es nicht ſelten ſchwer, den Beginn
und Vexlauf ſolcher geſellſchaftlichen Proceſſe in ihren Einzelheiten
feſtzuſtellen. Zerſtreut auf ein weites Territorium, entwickeln ſie
ſich im Innern der Familien und der Haushaltungen, ſie wachſen
wie das Gras und die Saat, und indem ſie ſich aus Atomen
aufbauen, bemerken wir ihr Wachstum erſt, wenn irgend ein be—
deutender Abſtand gegen frühere Verhältniſſe erreicht iſt; auch noch
ein drittes Moment hinderte eine unbefangene Würdigung unſerer
Socialgeſchichte: das belebende Princip aller geſellſchaftlichen Ent—
wickelung, die Freiheit, war aus dem Bewußlſein uͤnſerer Nation
und ihrer Denker entſchwunden, und es bedurfte erſt einer Reihe
ſchwerex Prüfungen und Demütigungen, ehe ſich unſer Volk aus
tiefem Fall wieder aufrichten konnte. In jenen Tagen der Schmach
fingen unſere Väter an, wieder Einkehr bei ſich ſelbſt zu halten
und den Blick nach rückwärts auf die eigene alte Geſchichte zu
richten. Aus dieſer Zeit datiert die Begründung unſerer alt—
deutſchen Philologie und Rechtsgeſchichte. Aber man blieb nicht
bei einer theoretiſchen Wiederbelebung ſtehen: in den großen Re—
Zeitſchrift für Allgem. Geſchichte ꝛc., 1885. Heft IX. 42
Studien zur alten und neuen Geſellſchaftsgeſchichte.
Von
Ehriſtian Aener.
J. Einleitung. Aelteſte germaniſche Zuſtände. Wanderleben.
Die Geſchichte der Stände und unſerer geſellſchaftlichen Einrich—
tungen gehört zu den lange unbeachtet gebliebenen Gebieten unſeres
geiſtigen Lebens. Es hängt dieſe Vernachläſſigung in erſter Reihe
zuſammen mit der auf Aeußerlichkeit gerichteten Tendenz unſerer
früheren Geſchichtſchreibung; ſie hat aber auch noch zwei andere
Gründe. Weniger geräuſchvoll als politiſche Begebenheiten pflegen
die Veränderungen des ſocialen Lebens vor ſich zu gehen. Sie finden
nicht in einem plötzlich eintretenden, alle Augen auf ſich ziehenden
Ereigniſſe ihren Ausdruck, und ſelbſt dem Hiſtoriker, der auf größere
Zeiträume zurückblickt, wird es nicht ſelten ſchwer, den Beginn
und Vexlauf ſolcher geſellſchaftlichen Proceſſe in ihren Einzelheiten
feſtzuſtellen. Zerſtreut auf ein weites Territorium, entwickeln ſie
ſich im Innern der Familien und der Haushaltungen, ſie wachſen
wie das Gras und die Saat, und indem ſie ſich aus Atomen
aufbauen, bemerken wir ihr Wachstum erſt, wenn irgend ein be—
deutender Abſtand gegen frühere Verhältniſſe erreicht iſt; auch noch
ein drittes Moment hinderte eine unbefangene Würdigung unſerer
Socialgeſchichte: das belebende Princip aller geſellſchaftlichen Ent—
wickelung, die Freiheit, war aus dem Bewußlſein uͤnſerer Nation
und ihrer Denker entſchwunden, und es bedurfte erſt einer Reihe
ſchwerex Prüfungen und Demütigungen, ehe ſich unſer Volk aus
tiefem Fall wieder aufrichten konnte. In jenen Tagen der Schmach
fingen unſere Väter an, wieder Einkehr bei ſich ſelbſt zu halten
und den Blick nach rückwärts auf die eigene alte Geſchichte zu
richten. Aus dieſer Zeit datiert die Begründung unſerer alt—
deutſchen Philologie und Rechtsgeſchichte. Aber man blieb nicht
bei einer theoretiſchen Wiederbelebung ſtehen: in den großen Re—
Zeitſchrift für Allgem. Geſchichte ꝛc., 1885. Heft IX. 42