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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 20,2.1907

DOI Heft:
Heft 24 (2. Septemberheft 1907)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: Vom Abkürzen
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https://doi.org/10.11588/diglit.8626#0764

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Iahrg. 20 Zweites Septemberheft lS07 Heft24

Vom Abkürzen

Wer alles lesen will, was man von wegen der Bildung lesen
„muß^, so hat Hermann Losch ausgerechnet, der braucht dazu 9l95 Lese-
Tage, da aber der Mensch, auch wenn er sonst nicht mehr viel zn
tun hat, leider nur über rund 9000 verfügt, so müßte eigentlich
jeder mit vierzig Iahren seinen Bildungsbankrott erklären. Wir
haben von dieser kleinen Ausrechnnng „zum Thema Lesen" neulich
im Kunstwart gesprochen (XX, (6, S. 2(0) und dazu bemerkt: uns
schiene der Scherz sehr ernsthaft interessant.

Deshalb, weil er vor einem sehr großen nnd sehr dunkeln
Hintergrunde steht. Lins der ernstesten aller Kulturprobleme reckt sich
hier auf. Iedes Geschlecht häuft zu den Lrwerbungen seiner Vorgänger
neue Erwerbungen, und der Schatz an geistigem Besitz steigt und
dehnt sich wie die Korallenbauten zu weiten Inseln. Aber wir können
bei geistigem Vermögen nicht den Korallen gleich auf den Gaben
der Vorfahren hocken und weiter häufen wie auf totem Gut. Was
die Alten erworben, sördert uns nur, wenn es für uns lebendig wird.
Also: „Lrwirb es, um es zn besitzen/ Schade nur, wir können es
nicht alles erwerben. Wir könnten's nicht, und wenn wir Atlanten-
kräfte hätten, denn wir müßten ja nicht nur die heutige Welt, wir
müßten auch die Welten der Vergangenheiten aufheben und tragen.
Könnten wir's aber wirklich, so tät es uns nicht einmal gut, wenn wir
nicht solche Götter wären, daß wir nach dieser ungeheuren Lern-
arbeit noch Kraft zu Weiterem hätten: zum Vorwärtsfchreiten, zum
Entdecken von Neuem, zum Bewältigen unserer eigenen Lrwerbungen,
zum Dienstbarmachen auch ihrer Gebilde in unserem, in der Mensch-
heit Dienst. Mit einem Worte: zur Weiterentwicklung. Und wenn
wir nicht nur die Auffassung unserer Ahnen von den Dingen, wenn
wir die Dinge selbst verarbeiten wollten, so brauchten wir dazu ein
Lrleben, für welches das Verweilen in der Vergangenheit allein ganz
sicher eine schlechte Vorschule wäre. Das Lrringen von neuen Wer-
ten aus uns heraus, das Bezwingen der Welt als eigene Menschen
von heute verlangt Unmittelbarkeit unseres Verhältnisses zur
Welt. „Polyhistorie" als Bildungsprinzip, und der Stillstand wäre da.

Nun erscheinen von rechts der Altrakonservative und von links
der Rltraradikale und reden drein. Von rechts: «Pfeif auf den Fort-
schritt! Die Menschheit hat genug, wenn sie sich in die von den
Vorfahren gebauten Nester hübsch einhuschelt, die Beeren speist, so
ihr rundum zuwachsen, und wenn's dunkel ist, den Schlaf des Ge-
rechten schläft. Denn dabei ist sie glücklich, dieses aber ist die Haupt-
sache^. Der zur Linken dagegen spricht: „pfeif auf die Vergangen-
heit" und begründet seinen Rat mit den gegenteiligen Argumenten,
die ebenso billig zu kaufen sind. Dann aber kommt der wirklich
lebende Mensch und sagt mir: „mach uns keine schlechten Scherze
vor: deinen Ultrakonservativen wie deinen Ultrafortschrittler gibt es
nicht, sie sind ja Homunkuli aus der Begriffsretorte, lebende Men-

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