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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 20,2.1907

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Heft 17 (1. Juniheft 1907)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8626#0320

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sW Der Buchstabe tötet

Ieder Mensch hat für dieselbe
Sache eigentlich nur einen cha-
rakteristischen Ausdruck: ein Mie-
nenspiel, eine Stirnme, eine
Mundart, einen Stil, ein Lieb-
lingsinstrurnent. So wäre es na-
türlich, ihrn auch nicht zwei Schrist-
weisen, die deutsche und die latei-
nische, zu geben; irnrner wird er der
einen anhängen und die andere
verachten. Aus offenliegenden prak-
tischen Gründen: Schnelligkeit, Welt-
verkehr, gefälligere Forrn — wäre
die lateinische vorzuziehen; unsre
hübsche deutsche Druckschrift, hervor-
gegangen aus der internationalen
westeuropäischen gotischen Mönchs-
schrift, einer Minuskelschrift halb
ornarnentalen Lharakters, könnte
dabei immer noch besonders als
Zierschrift, wie z. B. in England
und Frankreich, pietätvoll erhalten
bleiben. . So wenig sie deutsch-
national ist, so wenig hat ihre Er-
haltung mit dem deutschen Volkstum
irgend etwas Wesentliches zu tun.

Will man aber aus irgend-
welchen Gründen des historischen
Volksgefühls, die auch in der Recht-
schreibung so stark mitsprechen, der
Ehrfurcht oder der Gewohnheit auch
in der Schreibschrift die deutsche,
aus der Renaissance-Kurrentschrift
hervorgegangene beibehalten, so
sollte man hierbei wenigstens das
zur Geltung kommen lassen, dem
diese Renaissanceschrift ihr Ent-
stehen verdankt: die persönliche
Eigenart.

Auf diesen Unterschied von der
gleichmäßigen Mönchsminuskel hat
die deutsche Schule, als sie sich zur
Zeit ihres Entstehens der zeitge-
nössischen Renaissanceschrift bemäch-
tigte und sie pflegte, offenbar nicht
die gebührende Rücksicht genommen.

Aus der eckigen, eigensinnigen
Schrift der Humanisten und Re-
formatoren wurde von den Lehrern
in willkürlicher Stilisierung ein
Schema geschaffen, das sich zwar
langsam den Zeitanschauungen und
Stilformen angepaßt hat, sich aber
auf die Dauer nicht rasch genug
mit fortentwickeln konnte und fo
jetzt hinter der Gegenwart um etwa
fünfzig Iahre zurück ist. So haben
wir heute, mit der ängstlichen Pa-
rallelität aller überhaupt zu pa-
rallelisierenden Linien, der schrägen
Schriftlage und der übertriebenen
Amterscheidung der Haar- und
Grundstriche immer noch das Ideal
der dreißiger und vierziger Iahre,
ein thpisches Biedermeierideal, fest-
gehalten.

Weil aber zur Zeit unsrer
Großväter, in den Tagen, da man
noch Stammbuchverse und Geburts-
tagswünsche andächtig ins reine
schrieb, dieses Ideal des Sauberen,
Vorgeschriebenen, Langweilig-Kor-
rekten, der Ruhe und klaren Nüch-
ternheit den Leuten noch natürlich
war, schrieben damals auch die
Erwachsenen in derselben saube-
ren, schablonenhaften Lithographen-
manier, die sie in der Schule er-
lernt hatten.

Nach dem Glauben unsrer Zeit
ist aber nicht, wie unter dem durch-
lauchtigen deutschen Bund, Nuhe
die erste Bürgerpflicht, sondern
Tätigkeit, höchste und eigenste
Lätigkeit eines jeden auf seinem
eigensten Gebiete; und so sind alle
Taktiken vieler Schreiblehrer gegen
die Eigenart der Schrift, so sind
schneidend spitze Federn und Rich-
tungslinien und Taktschreiben in
Wahrheit heute ein Kampf gegen
Windmühlen; sowie im Menschen
einige Selbständigkeit erwacht, bildet

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