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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 20,2.1907

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Heft 13 (1. Aprilheft 1907)
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Avenarius, Ferdinand: Tolstoi contra Shakespere
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Heuberger, Richard: Zum Gedächnis an Brahms: bei der zehnten Wiederkehr seines Todestages
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https://doi.org/10.11588/diglit.8626#0021

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niemals peinliche Mühe: seht ihr es leben, so müßt ihr ja
glauben, daß es werden mnßte, wie es ist. Auch nachlässig ist er
wohl, in ermüdeten und gleichgültigen Stunden sogar schwach. Aber
wenn er auch nur im gewohnten Schritte seinen Weg hingeht, ist's,
als wenn die Menschen, die ihm begegnen, durchsichtige Seelen
seien, und sind doch aus Fleisch und Blut. Rnd reckt er sich auf,
so geht ein Gebieten aus seinem Blick in die Welt, daß sie sich mit
Wasser und Wind und Sonne und Mond umsormt zu einem
Sprecher seines Ichs. Da werden die Menschenleben zu Menschheits-
leben und die Wolken darüber zu Schicksalen. Da klagt oder jubelt
die Fülle dieser Seele durch das Heute und Morgen und Immerdar
über uns weg zu unsern Enkeln hin. And uns ist, als sei es doch
wieder unsre Seele, die von unsrer Welt droben singt. Aber
freilich, als sprächen darin noch hundert Stimmen wach und laut
mit, die sonst nur leise, abgerissen und unklar in unserm Schlafe
geflüstert hatten, und als hauchten an Stelle der hundert erwachten
wieder tausend andre Träumerstimmen aus den Dunkeln in uns und
um uns.

Den Shakespere kann uns Tolstoi nicht nehmen. Denn er kennt
ihn gar nicht. A

Zum Gedächtms an Brahms

bei der zehnten Wiederkehr seines Tsdestages

Hervorragende Menschen, insoweit sie reinen Herzens sind und
ihnen nicht ihre eigene, stark nach einer bestimmten Richtung strebende
Eigenart hinderlich im Wege steht, sehen Welt und Menschen,
Schaffen und Werden ihrer Vorgänger sowie ihrer Zeitgenossen von
einem höheren, freieren Standpunkte aus an, als Durchschnittsleute.
Daher sind sie auch duldsamer als solche. Mancher unbedeutende
Kopf vermag sich vor Kunstdünkel in einem derben Lustspiel nicht zu
unterhalten oder nennt einen noch so schönen Walzer einer noch
so verpatzten Symphonie gegenüber ohne weiteres minderwertig.
Goethe dagegen konnte zu Lckermann sagen: „Mir ist jedes Genre
recht." And ähnlich wie Goethe haben zu allen Zeiten die Großen,
von wenigen Ausnahmen abgesehen, stets besser von den Kleinen
gesprochen, als das — umgekehrt geschah.

Zu diesen Großen, die mit Wohlwollen über andere, sogar
Mindere, urteilten, die sich ein offenes Auge, ein offenes Herz für
Mitstrebende bewahrten, gehörte, so wenig das bisher bekannt ist,
auch er, der am 3. April j89? von uns ging, auch Iohannes Brahms.

Immer wieder hörte und las man von diesem Meister diesen
oder jenen messerscharsen Ausspruch, den oder jenen kaustischen Witz;
von seiner Duldsamkeit aber, von seiner Herzensgüte, von Dingen
also, die den meisten Menschen weniger „amüsant" erscheinen, —
hat man bisher nicht allzuviel vernommen. Brahms war daran wohl
nicht ganz unschuldig: scharf, fast hart vor vielen, hat er seine
große Güte in tiefster Stille geübt. Er tat's nicht nur mit Worten.
Er griff, wenn es galt, eine gute Sache zu fördern, gern in seine
Tasche, und hatte dann nur die eine Sorge, wie er es anstellen

6 Kunstwart XX, sS
 
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