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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 20,2.1907

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Heft 13 (1. Aprilheft 1907)
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Avenarius, Ferdinand: Tolstoi contra Shakespere
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https://doi.org/10.11588/diglit.8626#0020

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Werte erblindet, daß er sich nicht einmal vorstellen kann, wie uns
andern ein Shakespere denn etwa erscheinen mag.

Scheiden wir aus, was sich in Tolstois Linwänden als Erzeug-
nisse unbezwinglicher Voreingenommenheit erweist, und verarbeiten
wir, was sich von ihnen „halt", so wird uns Shakespere allerdings
anders erscheinen als zuvor. Wir werden in ihm keinen Gott, besser:
keinen Schwärmergötzen mehr sehn, nur einen Menschen noch. Keinen
„Olympier", der seiner Geisteskinder Geschicke „mit gelassener Hand"
bewegt, hoch über ihnen und ihren Leiden, denn das kann nur, wer in
Wolken lebt, und die sind bekanntlich für Menschen Dunst: selbst in
Weimar hat kein Olympier gelebt. Also erkennen wir auch Shakespere
als einen Menschen, der mit den Füßen im Staube der Erde und im
Dämmer seiner Zeit stand. Einen Mann, der im niedern Volk mit
den meisten, aber nicht den an sozialer Erkenntnis Weitesten seiner
Zeit gern nur den „süßen Pöbel" sah, einen Mann von Instinkten,
die sich wohler fühlten bei Großen, einen, der vielleicht gerade deshalb
selbst ihre Geistesmoden stellenweis kavaliermäßig mitging, und der
auch zu weltmännischen Konzessionen, vielleicht als Menschenverächter,
zeitweise bereit war. Einen, den der konfessionelle Streit ziemlich
gleichgültig ließ und dem der Kirchenglaube überhaupt nicht im Mittel-
punkt seiner Ideen stand. Einen Menschen, der im höchsten Maße
war, was Tolstoi im höchsten Maße haßt: ein Mensch von Leiden-
schast. Dabei einen Gewaltigsten an Sprachkrast. Einen Beweglichsten
an Lindrücken. Einen Bezwinger an Geist. Und einen Riesen an
Phantasie.

Der nahm nun, was ihm das Leben bot, um zu sagen, sei's,
„was er litt", sei's, „was ihn freute". Nur in beschränktem Sinne,
sagte er, „was er wollte". Denn die Absicht, so oder so einzuwirken,
eignete diesem Lebensaufnehmer wohl überhaupt nicht sehr, denn
aus seinem unermeßlichen Möglichkeiten-Sehnen mußte er vor jedem
„das ist das einzige Rechte" zum Skeptiker werden. Er sah
Richtiges nur immer für den einzelnen Menschen in gerade diesem ein-
zelnen Fall. Wie der Mensch im Traume sein Ich in mit- und
gegeneinander handelnde Gestalten zerlegt, so zerlegte er sein Ich
im Wachen: jeder seiner Handelnden hat etwas von ihm, keiner ist
er, und nicht einmal sie alle zusammen sind er, denn da gehörten
auch die ungeborenen noch mit dazu. Heut scheint er mit den Lng-
ländern zu sein, die in Ieanne d'Are die Hexe sehn, morgen scheint er
ein Engländerfeind zu sein, und imnler glauben wir ihm, weil ja der
Augenschein unsres innern Sinnes erweist, daß lebt, was er uns zeigt,
denn meist stellt er sie vor unsre Phantasie mit einer Anschaulichkeit
ohne gleichen. Wo er schon Geformtes sindet, nimmt er davon, was ihm
paßt, wirst er in den Schmelzosen, was er anders will, mitunter scheint's,
wie in Laune, denn mitunter ist Zierliches und Schönes bei dem,
was er verwirst, Zierlicheres und Schöneres, als er uns dasür gibt.
War es in Laune? Oder aus . dem Zwang beherrschender Stim-
mungen heraus, eigener Gesichte heraus, in die sich gerade dieses
Schöne nicht sügen wollte, sodaß er's im Fleisch als Fremdkörper
empsand, wie ihn kein Organismus verträgt? Willkürlich ist er oft,
läßt sallen, nimmt aus, bricht ab. Mit dem Motivieren gibt er sich

! ü Aprilheft V07

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