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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 20,2.1907

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Heft 20 (2. Juliheft 1907)
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Schultze, Ernst: Die Verbreitung guter Literatur, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.8626#0503

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Die VerbreiLung guter LiLeraLur

„Man inuß ein sehr hartes Herz haben, wenn man die
menschliche Gesellschaft des Trostes und Beistandes berauben
will, den ste aus Kunst und Poesie wider die mannigfachen Bitter-
keiten des Lebens schöpfen kann." Friedrich der Große

Aber die Schädlichkeit schlechter Literatur ist nur eine Stimme.
Was aber als schlechte Literatur anzusehen ist, darüber geheu die
Ansichten vielsach weit auseinander. Die verderblichste Klasse der
schlechteu Literatur, die Schundromane, sind den sogenannten gebil-
deten Standen meist nur vom Hörensagen bekannt; es gibt viele
Gebildete, die ein solches Heft niemals in der Hand gehabt, oder
wenn sie es in der Hand gehabt haben, es sich nicht näher angesehen
haben. Von dem Inhalt der Kolportagehefte, geschweige denn von
ihrer Verbreitung und von dem Ämfang, den viele Schundromane
erreichen, machen sie sich gewöhnlich Vorstellungen, die viel zu un-
schuldig sind und die nicht entfernt an die Wirklichkeit heranreichen.
Was aber außer den Kolportageromanen noch als schlechte Literatur
anzusehen ist, ist eine strittige Frage. Wer sich sür Literaturfragen
interessiert, hat so viel mit gnten Büchern zu tun, daß er zu der
nicht sehr angenehmen Beschästigung mit schlechten fast keine Zeit
übrig behält. And doch ist die Untersuchung derjenigen Literatur-
werke, die als verderblich zu bezeichnen sind, und die Aufdecknng
der Kanäle, durch welche die verschiedenen Arten der schlechten Lite-
ratnr ihren Giststoss überallhin in unserm Volke verbreiten, eine
überaus wichtige Ausgabe.

Zwar wird es kaum als Streitfrage betrachtet werden, ob die
Militär-Skandalromane, die im Anschlnß an Bilse vor einigen Iahren
unsern Büchermarkt überschwemmten, zur Klasse der schlechten Lite-
ratur zu zählen sind, und ebenso herrscht wohl nur eine Stimme
über die, ich will einmal sagen, Flagellanten-Literatur, die unter
einem durchsichtigen kulturgeschichtlichen MLntelchen die Spekulation
auf perverse Neignngen verbirgt. Gehören aber Nataly von Lsch-
struths Schriften zur schlechten Literatur oder nicht? Ieder Literatur-
kenner wird sie unbedingt dazu zählen, weil ihr Satzbau unsrer
Muttersprache ins Gesicht schlägt, weil ihre Psychologie mehr als
verworren ist, weil sie kaum je einem erhebenden Gedanken Ausdruck
geben und sich niemals über weichliche Gesühlsschwelgerei erheben.
Das große Publikum aber wird diese Verurteilung einer Schrift-
stellerin, die nach 50 Iahren ebenso vergessen sein wird, wie heute
Clauren vergessen ist, ungerecht sinden und als Gegenbeweis ins
Feld sühren, daß es sie selbst mit Vergnügen gelesen habe. Es ist
eben nicht richtig, daß das Kennzeichen der schlechten Literatur stets
in schlechter Ausstattung, in HLßlichem Papier, in schlechtem Druck,
in rohen Abbildungen bestehe. Eine überaus zahlreiche Klasse der
schlechten Literatur erscheint aus dem feinsten Papier, in schönem
Einbande, mit Goldschnitt und Schutzkarton.

Es ergibt sich daraus, daß die Bestrebungen für Ver-
breitung guter Literatur sich keineswegs auf die so-
genannten ungebildeten Stände beschränken dürfen.

^22 Kunstwart XX, 20
 
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