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Die Kunstwelt: deutsche Zeitschrift für die bildende Kunst — 3.1913-1914

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Wallerstein, Victor: Urteil und Vorurteil in der bildenden Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.22030#0240

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URTEIL UND VORURTEIL IN
DER BILDENDEN KUNST. VON
DR. VICTOR WALLERSTEIN.

Das Streben nach Objektivität, das wir heute
bis zur Nüchternheit auf allen Gebieten des
Lebens betätigen, möchte gar zu gern auch das
Gebiet der Kunst berühren und alles verbannen,
was sich einer reinen Anschauung- ento-egenstellen
und das Bild, das wir empfangen, trüben könnte.
Das Suchen nach beweiskräftigen Urteilen ist hier
besonders stark und insofern berechtigt, als
jedes Urteil in ästhetischen Fragen als sein
Wesentliches den „Anspruch auf Allgemein-
gültigkeit" in sich trägt und gerade deswegen
der Widerstreit der Meinungen nicht aus der Welt
zu schaffen ist.

Was die alte Kunst betrifft, so hat man sich
im Großen durch Konventionen geeinigt. Vergleich
mit der Wirklichkeit, das Ausschöpfen des psy-
chologischen und gegenständlichen Inhaltes er-
setzen ein reines Verhältnis zu dem Esoterischen
des Kunstwerkes. Tradition und Autorität treten
bei den meisten für die Privatmeinung ein. Wie
wenig damit gewonnen ist, erkennt man aus der
Hilflosigkeit, die über dieselben Menschen kommt,
wenn sie vor zeitgenössischen Neuerscheinungen
stehen, wo oftmals für das Abbild einer Wirklich-
keit ihr geistiges Erlebnis tritt und das Psycho-

SCHREIHALS". Holzplastik

C. DELL' ANTONIO-WARMBRUNN

logische in Symbolen der Form und Linie sich
ausdrückt. Hier wird der Mangel eines eigenen
Maßstabes eklatant.

Tatsächlich ist jede neue Erscheinung für uns
etwas Unheimliches, eine Überraschung, etwas
Einziges, noch nie Dagewesenes. Wir stehen
gleichsam etwas Feindlichem gegenüber, dem
wir in der ersten Stunde nicht gewachsen sind,
das wir nicht besiegen, nicht einmal einordnen
können. Wir stehen wie unter einem Bann,
wir fühlen uns klein, weil das Neue über uns
erhaben ist. Wir suchen Angriffspunkte und
Beziehungen herzustellen, wir suchen Schutz
hinter Wällen von bekannten scheinbar absoluten
Größen. Wir fragen: hat das Neue mit dem
oder jenem der uns bekannten und bereits
sanktionierten Werte etwas gemeinsam? Der
Vorgang wird verwickelter, je mannigfaltiger die
Bildung des Betrachters ist; denn nun wird
alles herbeigeholt, was die Historie an Beispielen
und Urteilen über diese in uns aufgestapelt hat
und man vergleicht. Gibt es Berührungspunkte,
die gleich auffallen, so ist es gut; wenn aber
nicht, so wird verdammt. Dem Kunstwerk
kommt man mit diesem Vorgang nicht näher,
im besten Falle wird man so feststellen, was
ihm fehlt, nicht aber herausfinden, was in ihm
steckt.

Bis auf wenige Ausnahmen erwarten die
Menschen von der Kunst wohl etwas Verschiedenes,
aber von vornherein doch Bestimmtes. Es hat
sich in uns auf kaum merkbare aber tausend-
fältige Weise eine Idee abgelagert, die für alles,
was uns entgegentritt, zum Vergleich herange-
zogen wird. Diese Idee herrscht bewußt oder
latent, als starres ungegliedertes oder wandlungs-
fähiges Bild, je nachdem wir uns durch Erziehung,
Umgebung und persönliche Neigung mit den
Dingen beschäftigt haben. Demgemäß hat auch
das Verhältnis tausend Abstufungen.

Die literarische oder romantische Betrachtung
ist heute schon durch eine ganz anders geartete
Zeitstimmung so gut wie ausgeschieden, immer
aber bleiben noch, wie wir sehen werden, genug
Vorurteile, die sich zwischen Kunstwerk und
Betrachter schieben.

Am häufigsten wird wohl das Bild zu
Rate g;ezoa;en, das wir selbst in der Natur von
den verschiedenen Dingen empfangen haben, und
mit dem Kunstding verglichen. Aber schon
da ergibt sich Schwierigkeit auf Schwierigkeit.
Sind die Naturbilder, die wir in uns tragen,
untereinander gleich? Wenn wir selbst annähmen
(was nicht der Fall ist), daß wir alle physisch
dieselben Aufnahmebedingungen hätten, so bliebe
noch ein weites Feld für die Abwandlungen
durch individuelle Umstände. Wie ist das
Naturbild in einem jeden von uns entstanden?

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