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Die Kunstwelt: deutsche Zeitschrift für die bildende Kunst — 3.1913-1914

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Kühnel, Ernst: Die Entwicklung des Orient-Teppichs
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Vom Kunstgeschmack
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https://doi.org/10.11588/diglit.22030#0544

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DIE ENTWICKELUNG DES ORIENT- TEPPICE/S

Sehr häufig begegnet man in dieser späten
Periode dem alten Gartenmuster, von dem aus
der Blütezeit nur ganz wenige, von einander
sehr abweichende Exemplare erhalten sind, und
das auch in der Dekadenz die Grundzüge seines
Schemas bewahrt hat: ein Mittelbassin, von dem
sich nach vier Seiten Kanäle zwischen Baum-
alleen und Blumenparterres hinziehen (Abb. 19).
Je später solche Stücke sind, desto spärlicher
pflegen die belebenden Elemente, Vierfüßler,
Vögel, Fische zu werden, die in den älteren
Beispielen mit Vorliebe verwendet wurden.

Bisweilen machte man, über die früheren
oberflächlichen Anregungen hinausgehend, auch
in Kleinasien den Versuch, klassische persische
Typen nachzubilden; so haben z. B. die soge-
nannten Heratieppiche (vgl. Abb. 9) im 18.
Jahrhundert eine ganze Reihe von anatolischen
Uebersetzungen erfahren, in denen bei aller
Anstrengung deutlich die zeichnerische Un-
beholfenheit und der urwüchsige Farbensinn
der türkischen Knüpfer zum Ausdruck gelangen
(Abb. 20). Im übrigen wurden hier zunächst
aus der alten Uschakgruppe und aus der zweiten
Phase der sogenannten Damaskus - Teppiche
allerlei neue Varianten kombiniert, in denen
nach und nach das Verständnis für die über-
nommenen Formen ganz untergeht. Bei den
älteren Chyördesmustern, die aber auch schon
dem Ende des 18. Jahrhunderts angehören,
kann man in dieser Hinsicht oft interessante Ueber-
gangs-Erscheinungen wahrnehmen. (Abb. 21).

Wir brauchen den Niedergang inderTeppich-
industrie Vorderasiens hier nicht weiterzuver-

folgen, sondern können uns mit der Feststellung
begnügen, daß schon zu Beginn des 19. Jahr-
hunderts das letzte Verständnis für Zweck, Sinn
und Wesen des Dekors und damit auch die
Fähigkeit, ihn koloristisch zu vertonen, ge-
schwunden ist. Es gibt eine Teppichästhetik,
die, wenn sie auch bisher niemals formuliert
wurde, doch jedem aufgehen muß, der sich in
die klassischen Erzeugnisse des 15. bis 17. Jahr-
hunderts zu vertiefen vermag, und vor der nicht
eine einzige der späteren Kategorien bestehen
kann.

Dabei braucht man noch gar nicht einmal an
die neuesten Produkte zu denken, die sich
meist durch eine willkürliche Mischung völlig
entarteter persischer, anatolischer und indischer
Elemente kennzeichnen und, abgesehen von
gewißen Nomadenarbeiten, in keinem Volks-
stamm wurzeln, mögen sie auch noch so be-
harrlich hier oder dort weiter vegetieren. Wer
die inneren Ursachen dieses Verfalls einmal
erfaßt hat, wird ohne weiteres überzeugt sein,
daß es zur völligen Versumpfung übrigens auch
ohne die gefürchteten Anilinfarben gekommen
wäre, deren Mitschuld man allgemein viel zu
hoch anschlägt, und daß die Versuche, die man
immer wieder unternimmt, mit Hilfe europäischer
Initiative die Industrie neu zu beleben, stets
über kurz oder lang scheitern müssen.

Das einzig Brauchbare, was von der einstigen
Herrlichkeit geblieben ist, die Knüpftechnik
selbst, könnte bestenfalls erst ein neuer De-
korationsstil wieder zu Leistungen von bleiben-
dem Wert führen.

Vom Kun,

Man erinnert sich der bemerkenswerten Rede,
welche kürzlich Dr. R i v e, der Oberbürgermeister
von Halle, über die Ankäufe von Werken der
neuesten Kunst für die modernen Museen gehalten
hat und die viel Aufsehen erregte. Jetzt nimmt
Prof. Wilhelm v. Bode, der Generaldirektor
der Berliner Museen, im „Kunstfreund" das Wort
zu einer Paraphrase des Themas und zwar nach
einer Richtung hin, in welcher ihm jeder Einsichtige
gern folgen wird. In diesem Aufsatz schreibt Bode
u, a. folgendes:

„Der Oberbürgermeister sagt: „Der Kunst-
geschmack wechselt beständig." Dann wird ja aber
das, was er heute als Allermodernstes erwerben läßt,
nach einigen Jahren schon vor dem neuen Geschmack
nicht mehr bestehen. Wäre es da nicht viel richtiger,
gerade abzuwarten, bis eine Richtung, bis ein
Künstler diese wechselnden Moden glücklich durch-
gemacht und zu allgemeiner Anerkennung sich
durchgerungen hat? Glaubt Dr. Rive, daß die jungen
und jüngsten Kunsthistoriker, die seit kurzem eine

geschmack.

Reihe der größten Kunstsammlungen leiten, nicht
ebenso stark von dem modernsten Geiste angesteckt
sind wie die Künstler, deren Freunde und Schritt-
macher sie sind? Wird über ihren Geschmack und
daher auch über ihre Erwerbungen eine spätere Zeit
nicht vielfach ebenso absprechend urteilen, wie sie
selbst über die ihrer Vorgänger urteilen? Werden
ihre Erwerbungen wirklich mit der Zeit einen so
„enormen Wert" gewinnen?

Eines übersieht der Bürgermeister vor allem:
der wahre Wert eines Kunstwerks hängt nicht ab
von dem wechselnden Geschmack, von der Mode;
der innere Kun st wert bleibt einem Werke,
auch wenn der Geschmack der Richtung, aus der
es hervorgegangen ist, ganz entgegengesetzt
ist. Diesen Wert soll der Sammler, soll namentlich
der Leiter einer öffentlichen Kunstsammlung er-
kennen, er soll unbeirrt vom herrschenden Geschmack
(und Ungeschmack!) und selbst diesem entgegen aus-
schließlich nach dem echten dauernden
K unstwert seine Erwerbungen machen."

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