Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Die Kunstwelt: deutsche Zeitschrift für die bildende Kunst — 3.1913-1914

DOI article:
Egger-Lienz, Albin: Die neuesten Kunstrichtungen, [1]
DOI article:
Weigelt, Curt H.: Magda von Lerch
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.22030#0201

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
DIE NEUESTEN KUNSTRICHTUNGEN

geordneten Anarchie einfallen, den Leuten, die
alles können und nichts sind.

Wie das Zeitschema zwischen zwei Unend-
lichkeiten, so schwebt diese von der Ewigkeit
des Lebens losgerissene l'art - pour - l'art - Kunst
zwischen den zwei Polen ihres Marasmus. Ein
ultramoderner Kunstliterat schrieb neulich ein
Buch, in dem er diese Aitisterei „zwischen Ce-
zanne und Hodler" umfassen wollte. Man muß
aber ihre besten Namen nennen, die zwei, deren
Träger allein durch einen angeborenen, nicht
angelernten Konflikt wenigstens den Respekt ver-
dienen, den man der Tragik Hamlets schuldet.

Bei van Gogh und Marees, diesen redlichsten
aller Bankerotteure, ist doch ein Instinkt vorhanden,
wenn er auch vom Verstände erstickt wurde.

Der eine suchte das Heil in jenem äußeren
Naturalismus, dem ich das Wort „Optik" auf
sein Denkmal geschrieben habe. Doch der Im-
pressionismus, dessen interessantester Vertreter
er ist, war wohl eine Medizin gegen die Aka-
demie, indem er wieder natürlich sehen lehrte,
aber von Medizin kann man nicht leben, und
das Sehen ohne Schauen führt zum Ubersehen
der Form, ja zu ihrer Aufopferung zu Gunsten
optischen und technischen Reizes. Netzhaut-
funktionen sind keine Gemütsbewegungen, und
die trefflichste Optik gewährt nicht den Form-
charakter, ersetzt nicht den Geist des Aufbauens
der Form aus ihrem Werdegesetz. Was man
heute „Synthese" heißt, ist Flächenschematik der
Farbflecken und hat mit Form nichts zu tun,
sie kann die Form nur erschlagen, wenn sie
nicht von ihr in Dienst genommen wird; am
optischen Pol scheiterte van Gogh.

Der andere, Marees, ging den artistischen
Irrweg und suchte in der Kunstformel, in der
Abstraktion die Lösung der Aufgabe. Aber die
Formel, das Verstandesschema, ist nicht die Form,
die Charakterharmonie.

Kalt und unpersönlich wirken beide. Die
Form Grünewalds und Rembrandts liegt gleich-
weit ab vom optischen wie vom artistischen
Hamlet. Wie zwischen Ei und Sperma, so tritt
zwischen Naturform \md Persönlichkeitscharakter
eine neue Zwienatur zusammen in jenem Ein-
klang, in dessen Freude allein jene ewig lebendige
Form immer wieder neu geboren wird, die vom
Kommando des Herrn Cassirer in Berlin völlig
unabhängig ist.

Da indes das Gesagte bereits hinreichen dürfte,
meine Bilder für die nächste Zeit der Beschlecht-
achtung aller Neophraseure und fortschrittlichen
Wortkombinatoren auszusetzen, ohne daß sie die-
selben erst gesehen haben, so lasse ich's dabei
bewenden und grüße Sie als Ihr ergebener

St. Justina bei Bozen A. Egger-Lienz.

i9r3-

MAGDA VON LERCH.
Es läßt sich in manchem Betrachte die
lyrische Dichtkunst dem graphischen
Schaffen vergleichen. Gemeinsam ist ihnen die Viel-
seitigkeit, mit der sie dem künstlerischen Verlangen
dienstbar werden. Von der Blüte des flüchtigen
Augenblicks bis zur ergrübelten Frucht schwerer
Gedankenreihen nimmt die Tafel dieses Schaffens
willig die Eindrücke auf. Beide sind Künste des
Kleinen, und doch ist das Größeste ihrem Bereich
nicht entrückt. Gerade heute wird man dazu
geführt, diese Parallele zu ziehen. Die lyrische
und graphische Produktion ist unübersehbar ge-
worden, fließt in so breitem Strom, daß mancher
sich mit Schrecken abwendet. Denn die Zahl
der Dilettanten ist in beiden Künsten erdrückend,
und besonders die Radierung wurde zu einer
Verführung für viele Unberufene, weil das Edle
des Materials und der Technik selbst dem albernsten
Gestammel noch einen Schein von Kunst gibt. Man
denke etwa an die große Zahl dilettantischer,
radierter Ex-Libris. Nicht geringen Teil an der
graphischen Produktion von heute haben die
Frauen; sie fühlen hier wohl ein Gebiet, das
ihrem Wesen in gewissem Sinne entgegenkommt,
ihnen ermöglicht, wirkliche Kunstwerke zu schaffen,
die nicht der Arbeit der Männer nachempfunden
sind. Kunst ist gewiß weder männlich noch
weiblich, aber als eigenste Angelegenheit der
Sinnlichkeit muß sich das Geschlecht des Schaffen-
den irgendwie geltend machen. Man darf es
sicherlich keinen Zufall nennen, daß grade aus
den Blättern der größten deutschen Radiererin
das große Erbarmen und der blühende Reichtum
eines wahrhaft mütterlichen Herzens strahlen.

Es liegt mir sehr fern, die Frau, von der ich
sprechen möchte, irgend mit Käthe Kollwitz in
Parallele zu stellen, Magda von Lerch würde
selbst einen solchen Vergleich bescheiden zurück-
weisen. Aber sie setzt sich als Mensch und Frau,
innerhalb der engeren Grenze ihres Wollens und
Könnens, wie jene ganz für ihre Kunst ein, was
immer nötig ist, wenn etwas Echtes entstehen
soll. Magda von Lerch lebt in Wien und be-
kennt sich gern als Schülerin von Ludwig Michalek.
Unter seiner Leitung hat sie begonnen, sich
ernsthaft mit der Radierung zu beschäftigen, aber
während dieser Zeit auch das Zeichnen nach
dem lebenden Modell nicht vernachlässigt. Nach-
dem sie sein Atelier verlassen hatte, arbeitete
sie mehrere Jahre allein und hat dann von dem
Radierer Luigi Kasimir vielfache Anregung er-
fahren. Er scheint es vor allem gewesen zu
sein, der sie von der etwas zaghaften und kon-
ventionellen Art ihrer frühen Blätter zu einer
freieren und kraftvolleren Technik geführt hat.
Sehr zu statten kam ihr die Möglichkeit, in einer

168
 
Annotationen