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Bernoulli, Johann Jacob
Römische Ikonographie (Band 1): Die Bildnisse berühmter Römer — Stuttgart, 1882

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https://doi.org/10.11588/diglit.662#0291

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Seneca. 279

in den Jahren, in welchen ihn die Herme zeigt, hauptsächlich mit
naturwissenschaftlichen Fragen *. Eher liegt in den Formen selber
ein Moment, das uns über die Bedeutung stutzig machen könnte.
Das Bildnis zeigt zwar einen kahlköpfigen Alten, aber einen Mann,
wie es scheint, von strotzender Gesundheit und in Beziehung auf
Körpercomplexion das gerade Gegenteil von dem, was Seneca über
sich aussagt. Visconti hat dies für genügend erachtet, um die Auf-
schrift für eine Fälschung oder wenigstens für einen Irrtum zu er-
klären 2. Er meint, die Namen seien zwar schon im Altertum, aber
nicht vom Sculptor sondern auf Veranlassung eines späteren Be-
sitzers auf die Hermen gesetzt worden, wobei man es in der Be-
zeichnung des einen Kopfes versehen habe. Auf eine solche nach-
trägliche Hinzu+ugung weise auch der Umstand, dass beide Namen
unmittelbar auf dem nackten Bruststück statt auf einem ausgesparten
Hermenrande angebracht seien.

Es ist hier zu unterscheiden zwischen der Annahme der Un-
gleichzeitigkeit und der der Unrichtigkeit. Dem einstimmigen Urteil
der Epigraphiker gegenüber kann an dem Altertum der Aufschriften
nicht gezweifelt werden8. Dagegen bin ich allerdings geneigt, wegen
des unpassenden Ortes4 und ausserdem wegen der verschiedenen
Schreibweise (der eine Name griechisch, der andere lateinisch) eine
spätere Hand für die Aufschriften zu vermuten. Nur folgt daraus
noch keineswegs der weitere Schluss, dass der Schreiber, welcher
bei Sokrates das Richtige sah, bei dem andern sich geirrt habe. Die
Verbindung des griechischen und des römischen Philosophen ist trotz
der himmelweiten Verschiedenheit ihrer geistigen Bedeutung eine an
sich plausible Zusammenstellung. Oder welchen andern Römer, da
doch offenbar ein solcher dargestellt ist, hätte man als Gegenstück
zu Sokrates wählen sollen? Scheint es doch Seneca selber darauf
abgesehen zu haben, wenigstens im Tode für einen zweiten Sokrates
zu gelten. Wenn daher das wohlgenährte Aussehen des Hermen-
kopfs mit der Schilderung seiner körperlichen Beschaffenheit nicht
stimmt, so ist die Lösung des Widerspruchs am einfachsten darin
zu suchen, dass jene Abmagerung erst eintrat, nachdem der Typus
seines Bildnisses bereits festgestellt war, oder dass sie, weil seiner
Natur fremd, von den bildenden Künstlern unbeachtet gelassen wurde.

1 Quaestiones natnralium 1. VII. ad Lueilium.

2 Ioon. rom. p. 431.

» S. Hübner in der Arch. Ztg. a. a. 0. p. 20.

4 Aus dem man vielleicht auch anderwärts den gleichen Schluss zu
ziehen hat.
 
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