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so wenig wie möglich lästig zu fallen, da ich ja
den größten Theil des Tages im Bureau biu
und nur Abends hierher komme."
„O, wir werden schon mit einander auskom-
meu, mein Herr!" versetzte die Wirthin, angenehm
berührt durch das freundliche Benehmen ihres
Gastes. „Wir kommen Ihnen durchaus nicht zu
nahe, und in Ihrem Zimmer sind Sie vollständig
Ihr eigener Herr!"
Nachdem noch einige andere unwesentliche
Punkte festgestellt worden waren, begab Werder
sich in die Gepäcks-Expedition, um seinen Koffer
zu holen und sich dann so häuslich als möglich
einzurichten.
Mit dem siebenten Glockenschlage trat er am
folgenden Morgen in das Stationsbureau, in
welches Liers wenige Minuten vor ihm eingetreten
war. Mit einem „Gilten Morgen! nehmen Sie
dort vor jenem Pulte Platz!" empfing ihn der
Beamte, und als Werder der Aufforderung nach-
gekommen war, trat jener an den Telegraphen-
Apparat, um eiue Depesche abzulassen.
Mit der regsten Theilnahme betrachtete der
junge Mann die Maschinerie und das Arbeiten
des Telegraphisten. Das in kurzen Pausen er-
folgende Aufschlagen, welches die Punkte und Striche
zu Tage förderte, aus denen die Worte und Sätze
gebildet werden, flößte ihm ein lebhaftes Interesse
ein. Sein Erstaunen erreichte jedoch den höch-
sten Grad, als nach kurzer Zeit von der über
20 Meilen entfernten Endstation die Antwort ein-
traf. Nachdem nämlich wiederum einige Minuten
mit Knacken und sekundenlangen Pausen verstrichen
waren, wickelte Liers einen endlos langen zoll-
breiten Streisen Papier ab, auf welchem eine
währe Sündfluth von Strichen und Punkten in
langer Reihe verzeichnet stand.
„Wissen Sie, was das heißt?" fragte er, schmun-
zelnd die Zeichen überlaufend. Werder verneinte es.
„Das heißt," fuhr Liers fort, „der Zug Nr. 9
soll auf dem Bahnhofe Breitensee fünf Minuten
länger halten, um den von hier abgehenden Extra-
zug vorbeizulassen. Wir haben also, sobald der
Zug hier in Breitensee eintrifft, dem Zugführer
den Inhalt dieser Depesche mitzutheilen. Ja, ja!
mein junger Freund!" setzte er mit behaglichem
Lächeln hinzu, „das Telegraphircn ist keine ganz
leichte Sache, aber wenn man es einmal weg hat,
dann geht es ganz gut. Na, Sie brauchen kein
so bedenkliches Gesicht zu machen, Sie werden's
schon noch lernen."
In diesem Augenblicke ging die Thüre auf
und der Stations-Vorsteher, in voller Uniform,
den Rock mit den blankgeputzten Knöpfen und dem
goldgestickten Kragen bis an den Hals zugeknöpft,
trat in das Zimmer.
„Nun, ich sehe, Sie haben bereits Ihren Platz
eingenommen," begann er, aus den Supernumerär
zutretend. „Ich werde Ihnen sogleich die Schreib-
materialien überweisen. Hier haben Sie nun vor-
allen Dingen die allgemeinen Dienstvorschriften,
nach denen sich alle bei der diesseitigen Bahnver-
waltung beschäftigten Leute zu richten haben, gleich-
viel, ob man gewöhnlicher Bodenarbeiter ist oder-
hochachtbares Direktionsmitglied. Er hatte mit diesen
Worten einige kleine Hefte aus einem die ganze
Wand einnehmenden Repositorium genommen und
legte sie dem jungen Manne in einer Reihe neben-
einander vor. „Dies hier," fuhr er dann, auf
ein zweites Heft deutend, fort, „betrifft Sie be-
sonders. Es ist die Instruktion für die Civil-
Supernumerare. Dann haben Sie hier das Be-
triebsreglement und hier den Tarif für Personen-
und Güterbeförderung. Wenn Sie vorläufig diese
kleinen Broschüren recht gewissenhaft studiren wollen,
so werden Sie für Ihre Eisenbahn-Carriere einen
sehr guten Grund legen."
„Ich werde mein Möglichstes thun, Herr-
Stationsvorsteher!" erwiederte der junge Mann,
die Hefte in. Empfang nehmend. —

Der Vormittag verging unter anhaltendem
Arbeiten. Werder wurde mit dem Geschäftsgänge,
der Einrichtung der Registratur und den Ein- und
Ausgangs-Journalen bekannt gemacht. Er durfte
das Bureau nur auf Augenblicke verlassen. Wenn
die Züge kamen und gingen, schritt er an Liers'
Seite den Perron auf und ab. Es gab Vieles
anzuordnen und in's Werk zu richten. Wagen
mußten angehangen, den Packmeistern mußten
Briefe und Schriftstücke gegen Quittung behändigt
werden. Unzufriedenen Passagieren war das Be-
schwerdebuch vorzulegen; die Gepäckträger wollten
überwacht sein; kurz, es bedurfte nur einer geringen
Frist, um unserem Supernumerare die Ueber-
zeugung aufzudrängen, daß der Eisenbahndienst
der anstrengendste und beschwerlichste aller amt-
lichen Funktionen sei.
Nichts destoweniger ermüdete der junge Mann
nicht. Er war von Kindheit auf an ein eifriges
Studiren und Arbeiten mit der Feder gewöhnt,
und hatte den besten Willen, sich zu eiuem tüch-
tigen Eisenbahnbeamten heranzubilden. Er unterzog
sich allen Arbeiten, die man ihm übertrug, mit
eisernem Fleiße und verließ am Abend sein Pult
nicht, bevor nicht jede Piece, erledigt war. Hill-
mann sagte zu alledem kein Wort, aber er nahm
auch nie Veranlassung, den Jüngling zu tadeln,
wenn dieser — wie es kaum zu vermeiden war
— aus Geschäftsunkenntniß oder im übergroßen
Eifer einmal einen Fehler beging.
„Das wird auch 'mal so 'n richtiger Beamter,"
murrte Liers eines Abends zu seiner Frau, als
diese ihm mit geheimnißvoller Miene mittheilte,
daß der Herr Chambregarnist noch über den Tarif
gebeugt, wie angeuagelt sitze, „so einer, wie er
sein muß, wenu er Carriere machen soll."
„Wie muß denu ein richtiger Beamter sein?"
fragte die Frau.
„Eiu richtiger Beamter muß nach oben hin
lecken und nach unten hin treten, sonst bringt er's
im Leben zu nichts!" erwiederte der Assistent un-
wirsch.
„Ich glaubte immer, es würde genügen, wenn
jeder nach bestem Wissen seine Schuldigkeit thäte,"
meinte die Frau leichthin.
„Das verstehst Du nicht, Frau!" rief Liers
in ärgerlichem Tone. „Daß jeder Beamte seine
Schuldigkeit thut, ist selbstverständlich und wird
ohne Weiteres vorausgesetzt; denn thut er sie nicht,
so jagt man ihn einfach zum Teufel!"
„Wenu Du cs Dir aber auch ein wenig
hättest angelegen sein lassen, wie z. B. der Herr-
Werder hier; hättest gelernt und ftudirt, was Du
noch nicht wußtest, so könntest Du heut auch schon
Betriebsinspektor oder Ober-Güterverwalter sein;
könntest in einer schönen Uniform mit goldgesticktem
Kragen, den Degen an der Seite und feine weiße
Handschuhe au den Fingern einherstolziren, und
wir könnten in erster Elaste fahren, wie die hohen
Herrschaften, wenn sie in die Bäder reisen."
„Fängst Du schon wieder an, mich fuchswild
zu machen mit Deinem dummen Geschwätz?" fuhr
Liers auf. „Habe ich Dir nicht bereits Lausend
Mal gesagt, daß ich nicht dazu tauge, zu fuchs-
schwäuzeu und den gehorsamen Diener zu spielcu?
Ich passe einmal nicht zum Beamten, meiner
ganzeir Natur nach nicht. Das ist's. Ein Schuster-
oder Schneider hätt' ich lieber werden sollen, als
so ein Sündenbock von Königs Gnaden. Was
fehlt einem freien Arbeiter, der von dem Ertrag
seiner Hände lebt? gar nichts fehlt ihm. So viel
wie unser einer einmal an Pension bezieht, kann
er sich ersparen und dazu ist er sein eigener Herr
und braucht nicht nach Jedermanns Pfeife zu
tanzen."
Die Frau, an ähnliche Reden ihres Mannes
längst gewöhnt, schwieg und fuhr seufzend in ihrer
gewohnten häuslichen Beschäftigung fort. Der
Stalionsassistent aber zog den schwarzen Civilrock
an, nahm seinen, WenZvertheidiger, einen sehnigen

Rohrstock mit massiver neusilberner Krücke, in die
Hand, setzte einen grauen, niederen Filzhut auf
und hegab sich in die Nacht hinaus.
Er schlug den Weg ein, welcher zwischen
wogenden Kornfeldern hin nach dem Dorfe führte.
Bald hoben sich die ersten mit Stroh gedeckten
Häuser von dem nächtlich dunklen Grün der Obst-
gärten ab. Er trat in eines, welches mit Ziegeln
gedeckt war und die benachbarten Gebäude wesent-
lich überragte. Ein über der Hausthüre befind-
liches Schild, auf welchem Gläser, Flaschen und
Viktualien abgebildet waren, verrietst, daß hier zu
jeder Zeit für den Durstigen ein Labetrunk zu
finden sei. In der Schenkstube herrschte ein reges
Leben. Um den mit großen und kleinen Gläsern
bepflanzten Tisch faßen jüngere und ältere Männer
in Bauerntracht, eifrig schwatzend, die Karten mit
krachenden Faustschlägen auf den Tisch werfend
und dabei die niedere Stube mit einem ersticken-
den Tabaksqualm erfüllend.
Liers wurde von sümmtlichen Güsten auf das
Freundschaftlichste begrüßt. Das Mißbehagen
schwand aus feinem Antlitz, als man ihm ehr-
erbietig Platz machte und der Wirth sogleich mit
einem gefüllten Branntweinglase erschien. Hier,
unter diesen gewöhnlicheren Elementen des Dorfes
stand er als „Herr Stationsassistent" in großem
Ansehen und er that alles Mögliche, um sich das-
selbe zu erhalten; da er sich durch Abfassung von
Klagen und Bittschriften für diese meist in Streitig-
keiten und Schulden steckenden Leute ein kleines
Nebeneinkommen zu verschaffen wußte.
Freilich kam davon seiner Familie daheim
nicht viel zu Gute. Liers hatte die schlimme Ge-
wohnheit, jeden Abend, sobald sein Dienst beendet
war, einige Stunden in der Schenke zuzubringen,
angeblich, um sich bei einem Glase Bier von
den Anstrengungen des Tages zu erholen. In
der That aber sprach er dem Branntweinglase
und der Rumstasche mehr zu, als es sich mit seiner
amtlichen Stellung vertrug. Es war etwas Ge-
wöhnliches, daß seine Frau und die Kinder hunger-
ten und entbehrten, und namentlich war die Noth
in den letzten Tagen des Monats groß. Bei
möglichst sparsamer Einrichtung wäre die Familie
vielleicht, ohne Schulden zu machen, durchgekommen,
bis dem Haupte derselben eine Gehaltsverbesseruug
zu Theil geworden wäre. Bei der gegenwärtigen
Sachlage jedoch konnte es Niemand nuffallen, daß
die Schulden sich häuften und die Gläubiger hin
und wieder nicht undeutlich zu verstehen gaben, sie
würden sich wegen ihrer rechtmäßigen Forderungen
an die Direktion wenden.
Wie es energielose Männer in der Regel thun,
so fuhr auch Liers fort, sich durch fleißigen Genuß
spirituöser Getränke zu betäuben und sich dadurch
die Sorgen aus dem Sinne zu schlagen. Seine
dienstlichen Obliegenheiten am Tage verrichtete er
dagegen mit größter Sorgfalt; da er sehr gut
wußte, daß feine Vorgesetzten ihn so leicht nicht
fallen lassen würden, so lange er in seinem Amte
tüchtig blieb.
Als Liers endlich mit unsicherem Schritte nach
dem Bahnhofsgebäude zurückschwankte, war es
bereits Mitternacht und die Dunkelheit sümmtlicher
Fenster bewies, daß die Bewohner des einsamen
Hauses im tiefen Schlummer lagen.
„Nun, Väterchen, wie macht sich denn eigent-
lich der neue Supernumerär?" fragte Margarethe
einige Tage darauf während der Mittagstafel,
„Du hast uns ja noch gar nichts von ihm erzählt?"
„Ich habe ihn nur erst ein wenig beobachten
wollen," versetzte der Stationsvorsteher lächelnd.
„Ihr wißt, ehe ich mir nicht eine bestimmte An-
sicht gebildet habe, spreche ich nie ein Urtheil über
irgend Jemand aus."
„Was auch sehr recht von Dir ist, Väterchen!"
nickte Margarethe, indem sie den Teller des Be-
amten mit seinem Lieblingsgericht füllte. „Nun,
 
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