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Damit aber gewann er weiter nichts, als daß
er von dem rasch um den Wagen Herumeilenden
Franzosen aufgefangen ward.
Sieb enzehntes Kapitel.
Ein theurcs Frühstück.
Es mußte eine besondere Fügung des Him-
mels sein, welche Gilbert Grantham, als er nach
der Ueberfahrt von Calais in Dover landete,
bewog, in dem ,Lord Warden Hole? abzusteigen.
Die Geschichte von Louisens Verschwinden aus
Madame Deville's Pensionat hatte er schon längst
erfahren und würde sich nach Boulogne begeben
haben, um die näheren Umstände aus dem eige-
nen Munde der Directrice zu hören, wenn er
nicht durch verschiedene Umstände daran verhin-
dert worden wäre.
Sobald als er nach England znrückkehren
konnte, schickte er deshalb Theophilns Bickley nach
Boulogne, während er selbst sich auf den Weg
nach . Calais machte.
Man hatte nämlich gemeint, Louise sei mög-
licherweise aus dem Pensionat nach England ge-
flohen und in der Folge von Paßquälereien,
welche zu jener Zeit an allen Uebergangspunkten
der französischen Küste in voller Blüthe standen,
aufgehalten worden.
So unsicher diese Hypothese auch war, so be-
schloß Grantham doch darauf hin zu handeln,
besonders da die Sache keinerlei Schwierigkeiten
machte.
Bickley sollte nach Boulogne reisen, um Ma-
dame Deville zu sprechen und sich nach allen
näheren Umständen zu erkundigen.
Grantham dagegen wollte auf dem Wege nach
Calais überall Erkundigungen einziehen und die
Polizei auf die Spur lenken.
Das Porträt, welches man mit so vieler
Mühe von Mr. Macdawber erlangt, ward eben-
falls wieder in Requisition gesetzt.
Man fertigte ein Dutzend Kopien davon mit
Hilfe jener neuen Procedur, welche damals noch
wie das gewaltigste Wunder der Neuzeit ange-
staunt ward. Wir meinen das allerdings wun-
derbare Fixiren der Bilder in der eunrsru ob8oaru
durch Anwendung von chemischen Säuren.
Gilbert Grantham hatte in dieser Angelegen-
heit solchen Eifer entwickelt, daß beinahe jeder
Officiant auf der Nordbahn mit einem Duplicat
von Mr. Macdawber's Werk versehen war.
Dennoch schien Alles ohne Erfolg bleiben zu
sollen.
Niemand konnte sich auf eine solche Person
besinnen.
Die Frage war keine so abenteuerliche, als
dies vielleicht auf den ersten Blick scheint, denn
ein Mädchen von Louisens Alter, welches allein
gereist wäre, hätte ganz gewiß Aufmerksamkeit
erregt.
Gilbert Grantham war eifriger Protestant
und deshalb gegen die katholische Geistlichkeit sehr
argwöhnisch. Er sprach daher ganz unumwunden
den Verdacht ans, daß Louise durch irgend einen
intriguanten Pfaffen, wie er sich ausdrüäte, in
ein Kloster gelockt worden sei.
Dennoch aber mochte er mnthmaßen, was er
wollte, so konnte er doch eben so wenig wie alle
Anderen, die sich mit dieser Aufgabe beschäftigten,
zu einer genügenden Lösung gelangen.
Nach dieser Abschweifung suchen wir Grant-
ham wieder in Dover auf.
Er trat in das Frühstückszimmer und hatte
kaum an einem Tische Platz genommen, als seine
Aufmerksamkeit durch eine gemeine Person erweckt
ward, welche den Kellner beschuldigte, sie prellen
zu wollen.
„Was, für eine Taffe Kaffee soll ich einen
Schilling bezahlen?" rief sie entrüstet. „Das ist
ja übertrieben!"
„Das Frühstück kostet einen Schilling, Ma-
dame," entgegnete der Kellner in ziemlich arti-
gem Tone.
„Ich habe aber blos Kaffee getrunken."
„Wir verkaufen denselben nicht nach der Taffe.
Hier ist ein Hotel, kein Kaffeehaus."
„Ach, was frage ich darnach," entgegnete die
Frau. „Einen Schilling für eine Taffe Kaffee zu
verlangen, das ist offenbare Betrügerei. So sage
ich."
„Ich bitte um Entschuldigung, Madame, es
ist keine Betrügerei."
„Ja wohl ist es Betrügerei — Betrügerei und
Schwindel."
„Aber, Madame," sagte der Kellner, „die Preise
stehen überall deutlich angeschrieben."
„Ich sehe nichts davon."
„Dort steht es," entgegnete der Kellner, der
nun allmählig die Geduld zu verlieren begann.
„Dort steht es für Jeden, der lesen kann."
„Wie? Wollen Sie vielleicht damit sagen, ich
könnte nicht lesen?" fragte die Frau in noch hef-
tigerem Tone.
„Nein, das habe ich nicht gesagt," entgegnete
der Kellner.
„Ich will Ihnen etwas sagen, junger Mann.
Ich werde mich bei Ihrem Herrn beschweren und —"
Hier mischte der Begleiter der Frau, ein Mann
von eben so ordinärem Aussehen wie sie, sich ein
und sagte in gedämpftem Tone:
„Laß es doch gut sein. Nimm Dir weiter
nicht die Mühe."
„Es ist aber eine Schändlichkeit," fuhr die
Frau fort, „und wir wären sehr dumm, wenn
wir eine so unverschämte Forderung bezahlten."
Der Mann machte hierauf abermals in ge-
dämpftem Tone anderweite Gegenvorstellungen.
Grantham's Blicke wendeten sich diesen beiden
Persönlichkeiten zu.
Nachdem er länger als er anfänglich beab-
sichligt, von dem Lande feiner Geburt entfernt ge-
wesen, war es ihm keineswegs angenehm, in fast
den ersten Landsleuten, mit welchen er bei seiner
Rückkehr zusammentraf, so unangenehme Persön-
lichkeiten zu finden.
Er betrachtete sie mit verstohlenem Blick.
Der Mann sah aus wie ein anständiger Hand-
werker; in eigentümlichem Widerspruch hiermit
stand aber der elegante Schnurrbart, den er trug,
und der ihm das Ansehen eines Kavalerieoffiziers
in Civilkleidern gab, denn Schnurrbärte wurden
damals außer eben von Kavaleristen in England
fast von Niemanden getragen.
Die Frau war geschmacklos bunt gekleidet und
hatte sich mit einer Menge unechtem Schmuck be-
hängt.
In der ersten Blüthe ihrer Jugend hatte sie
vielleicht für hübsch gegolten, jetzt aber waren ihre
Reize etwas allzu prononcirt, als daß der gute
Geschmack hätte Gefallen daran finden können.
Ihre Augen, die man früher vielleicht be-
wundert, sahen jetzt verschwommen, blaugrau und
wässerig aus, obschon dieser Umstand nicht sowohl
von Wasser als von Spiritus herrühren mochte.
Ihre Gesichtsfarbe war grob und schien durch
Anwendung von Schminke nicht verbessert worden
zu sein, sondern dadurch vielmehr noch gelitten zu
haben.
Gerade in dem Augenblicke, wo Grantham
dieses seltsame Paar betrachtete, warf der Mann,
der noch einen gewissen Grad von Bescheidenheit
zu besitzen schien, zufällig einen Blick nach der
Richtung, wo Grantham saß.
Wahrscheinlich wollte er blos sehen, ob der
Streit zwischen seiner würdigen Gattin und dem
Kellner die öffentliche Aufmerksamkeit in eben nicht
wüuschenswerther Weise in Anspruch nehme.
„Der Mann hat eigenthümliche Augen!" dachte
Grantham.
„Wir wollen machen, daß wir fortkommen,"
sagt:- der Mann. „Das Dampfboot wird nun
bald abgehen."
„Ja, wir können gehen," entgegnete die Frau,
deren Sprache man es anhörte, daß sie ihren
Streit noch nicht vergessen hatte. „Wo ist das
Mädchen?"
„Gianetta!" sagte der Mann.
Grantham hatte nicht bemerkt, daß sie noch
Jemanden bei sich hatten; in diesem Augenblicke
aber gewahrte er ein Mädchen, welches schlafend
hinter dem Manne gesessen hatte und jetzt er-
wachte.
Sie blickte auf.
Was war es, was Grantham bewog, so plötz-
lich auszuspringen?
Nein, es war kein Jrrthum möglich. Es war
Louise!
- Ja, es war Louise, aber welche Veränderung
war in diesen wenigen Wochen mit ihr vorge-
gangen!
Sie hatte jetzt nicht mehr das fröhliche, glück-
liche Ansehen, welches sie früher besessen hatte.
Das milde Roth der Gesundheit war von ihren
Wangen gewichen, und sie war bleich, hohläugig,
und hohlwangig.
Grantham konnte nicht anders als vermuthen,
daß dieser Mann und diese Frau sie aus der
Schule hiuweggelockt hätten.
Er überlegte daher auch nicht lange, sondern
schritt quer über das Zimmer und stellte sich ihr
unmittelbar gegenüber.
„Louise!" sagte er.
Sie blickte mit einer Bewegung, fast mit einem
Ruck der Ueberraschung auf und rief unwillkürlich:
„Mein Vater!"
„Louise, meine Tochter, mein Kind!"
Mit einem lauten Ausruf der Verwunderung
und Freude stürzte sie auf Grautham zu und er-
weckte dadurch die Aufmerksamkeit der fämmtlichen
Anwesenden noch mehr, als der Streit der Frau
mit dem Kellner gethan.
Schluchzend warf sie sich in Grantham's Arme.
Achtzehntes Kapitel.
Ein stürmischer Auftritt.
Die Scene, welche nun folgte, ward von Grant-
ham in späteren Jahren noch oft erwähnt und
dennoch war er nie im Stande, sie vollständig
und genügend zu schildern.
Alles gerieth in Aufregung und Verwirrung.
Der Professor — denn der scharfsinnige Leser
hat längst errathen, daß dieses ordinäre Ehepaar
Niemand anders war als Signor Delavanti, der
Magnetiseur, und seine Frau Signora Delavanti
— der Professor verlor mit einem Male alle Fassung.
Was die Genossin seiner Freuden und Leiden
betraf, so saß sie da wie betäubt und sah Kalo
Grantham, bald das Mädchen an.
Ihre wässerigen, grauen Augen traten aus
den Höhlen heraus und ihr Mund stand so weit
und so lange offen, daß ein Photograph vollauf
Zeit gehabt hätte, das Innere ihres Schlundes
anfzunehmen.
Der Professor schien kaum im Stande zu sein,
sich aufrecht zu halten. Er klammerte sich krampf-
haft mit beiden Händen an die Lehne seines Stuhls
und folgte, was Mienenspiel betraf, dem Beispiele
seiner Gattin.
Nachdem er sich ein wenig von dem ersten
Schrecken erholt, begann ihm der Schweiß sicht-
bar auf die Stirne zu treten.
Er wechselte die Farbe wohl zehnmal in weit
weniger Zeit, als wir brauchen, um diese That-
sache zu berichten, und sein ohnehin nicht ein-
nehmendes Gesicht erhielt dadurch ein geradezu
widerliches, krankhaftes Ansehen.
Dem Leser, der sich der Kühnheit erinnert,
womit wir diesen Mann früher zu Werke gehen
sahen, erscheint dies vielleicht seltsam.
Damit aber gewann er weiter nichts, als daß
er von dem rasch um den Wagen Herumeilenden
Franzosen aufgefangen ward.
Sieb enzehntes Kapitel.
Ein theurcs Frühstück.
Es mußte eine besondere Fügung des Him-
mels sein, welche Gilbert Grantham, als er nach
der Ueberfahrt von Calais in Dover landete,
bewog, in dem ,Lord Warden Hole? abzusteigen.
Die Geschichte von Louisens Verschwinden aus
Madame Deville's Pensionat hatte er schon längst
erfahren und würde sich nach Boulogne begeben
haben, um die näheren Umstände aus dem eige-
nen Munde der Directrice zu hören, wenn er
nicht durch verschiedene Umstände daran verhin-
dert worden wäre.
Sobald als er nach England znrückkehren
konnte, schickte er deshalb Theophilns Bickley nach
Boulogne, während er selbst sich auf den Weg
nach . Calais machte.
Man hatte nämlich gemeint, Louise sei mög-
licherweise aus dem Pensionat nach England ge-
flohen und in der Folge von Paßquälereien,
welche zu jener Zeit an allen Uebergangspunkten
der französischen Küste in voller Blüthe standen,
aufgehalten worden.
So unsicher diese Hypothese auch war, so be-
schloß Grantham doch darauf hin zu handeln,
besonders da die Sache keinerlei Schwierigkeiten
machte.
Bickley sollte nach Boulogne reisen, um Ma-
dame Deville zu sprechen und sich nach allen
näheren Umständen zu erkundigen.
Grantham dagegen wollte auf dem Wege nach
Calais überall Erkundigungen einziehen und die
Polizei auf die Spur lenken.
Das Porträt, welches man mit so vieler
Mühe von Mr. Macdawber erlangt, ward eben-
falls wieder in Requisition gesetzt.
Man fertigte ein Dutzend Kopien davon mit
Hilfe jener neuen Procedur, welche damals noch
wie das gewaltigste Wunder der Neuzeit ange-
staunt ward. Wir meinen das allerdings wun-
derbare Fixiren der Bilder in der eunrsru ob8oaru
durch Anwendung von chemischen Säuren.
Gilbert Grantham hatte in dieser Angelegen-
heit solchen Eifer entwickelt, daß beinahe jeder
Officiant auf der Nordbahn mit einem Duplicat
von Mr. Macdawber's Werk versehen war.
Dennoch schien Alles ohne Erfolg bleiben zu
sollen.
Niemand konnte sich auf eine solche Person
besinnen.
Die Frage war keine so abenteuerliche, als
dies vielleicht auf den ersten Blick scheint, denn
ein Mädchen von Louisens Alter, welches allein
gereist wäre, hätte ganz gewiß Aufmerksamkeit
erregt.
Gilbert Grantham war eifriger Protestant
und deshalb gegen die katholische Geistlichkeit sehr
argwöhnisch. Er sprach daher ganz unumwunden
den Verdacht ans, daß Louise durch irgend einen
intriguanten Pfaffen, wie er sich ausdrüäte, in
ein Kloster gelockt worden sei.
Dennoch aber mochte er mnthmaßen, was er
wollte, so konnte er doch eben so wenig wie alle
Anderen, die sich mit dieser Aufgabe beschäftigten,
zu einer genügenden Lösung gelangen.
Nach dieser Abschweifung suchen wir Grant-
ham wieder in Dover auf.
Er trat in das Frühstückszimmer und hatte
kaum an einem Tische Platz genommen, als seine
Aufmerksamkeit durch eine gemeine Person erweckt
ward, welche den Kellner beschuldigte, sie prellen
zu wollen.
„Was, für eine Taffe Kaffee soll ich einen
Schilling bezahlen?" rief sie entrüstet. „Das ist
ja übertrieben!"
„Das Frühstück kostet einen Schilling, Ma-
dame," entgegnete der Kellner in ziemlich arti-
gem Tone.
„Ich habe aber blos Kaffee getrunken."
„Wir verkaufen denselben nicht nach der Taffe.
Hier ist ein Hotel, kein Kaffeehaus."
„Ach, was frage ich darnach," entgegnete die
Frau. „Einen Schilling für eine Taffe Kaffee zu
verlangen, das ist offenbare Betrügerei. So sage
ich."
„Ich bitte um Entschuldigung, Madame, es
ist keine Betrügerei."
„Ja wohl ist es Betrügerei — Betrügerei und
Schwindel."
„Aber, Madame," sagte der Kellner, „die Preise
stehen überall deutlich angeschrieben."
„Ich sehe nichts davon."
„Dort steht es," entgegnete der Kellner, der
nun allmählig die Geduld zu verlieren begann.
„Dort steht es für Jeden, der lesen kann."
„Wie? Wollen Sie vielleicht damit sagen, ich
könnte nicht lesen?" fragte die Frau in noch hef-
tigerem Tone.
„Nein, das habe ich nicht gesagt," entgegnete
der Kellner.
„Ich will Ihnen etwas sagen, junger Mann.
Ich werde mich bei Ihrem Herrn beschweren und —"
Hier mischte der Begleiter der Frau, ein Mann
von eben so ordinärem Aussehen wie sie, sich ein
und sagte in gedämpftem Tone:
„Laß es doch gut sein. Nimm Dir weiter
nicht die Mühe."
„Es ist aber eine Schändlichkeit," fuhr die
Frau fort, „und wir wären sehr dumm, wenn
wir eine so unverschämte Forderung bezahlten."
Der Mann machte hierauf abermals in ge-
dämpftem Tone anderweite Gegenvorstellungen.
Grantham's Blicke wendeten sich diesen beiden
Persönlichkeiten zu.
Nachdem er länger als er anfänglich beab-
sichligt, von dem Lande feiner Geburt entfernt ge-
wesen, war es ihm keineswegs angenehm, in fast
den ersten Landsleuten, mit welchen er bei seiner
Rückkehr zusammentraf, so unangenehme Persön-
lichkeiten zu finden.
Er betrachtete sie mit verstohlenem Blick.
Der Mann sah aus wie ein anständiger Hand-
werker; in eigentümlichem Widerspruch hiermit
stand aber der elegante Schnurrbart, den er trug,
und der ihm das Ansehen eines Kavalerieoffiziers
in Civilkleidern gab, denn Schnurrbärte wurden
damals außer eben von Kavaleristen in England
fast von Niemanden getragen.
Die Frau war geschmacklos bunt gekleidet und
hatte sich mit einer Menge unechtem Schmuck be-
hängt.
In der ersten Blüthe ihrer Jugend hatte sie
vielleicht für hübsch gegolten, jetzt aber waren ihre
Reize etwas allzu prononcirt, als daß der gute
Geschmack hätte Gefallen daran finden können.
Ihre Augen, die man früher vielleicht be-
wundert, sahen jetzt verschwommen, blaugrau und
wässerig aus, obschon dieser Umstand nicht sowohl
von Wasser als von Spiritus herrühren mochte.
Ihre Gesichtsfarbe war grob und schien durch
Anwendung von Schminke nicht verbessert worden
zu sein, sondern dadurch vielmehr noch gelitten zu
haben.
Gerade in dem Augenblicke, wo Grantham
dieses seltsame Paar betrachtete, warf der Mann,
der noch einen gewissen Grad von Bescheidenheit
zu besitzen schien, zufällig einen Blick nach der
Richtung, wo Grantham saß.
Wahrscheinlich wollte er blos sehen, ob der
Streit zwischen seiner würdigen Gattin und dem
Kellner die öffentliche Aufmerksamkeit in eben nicht
wüuschenswerther Weise in Anspruch nehme.
„Der Mann hat eigenthümliche Augen!" dachte
Grantham.
„Wir wollen machen, daß wir fortkommen,"
sagt:- der Mann. „Das Dampfboot wird nun
bald abgehen."
„Ja, wir können gehen," entgegnete die Frau,
deren Sprache man es anhörte, daß sie ihren
Streit noch nicht vergessen hatte. „Wo ist das
Mädchen?"
„Gianetta!" sagte der Mann.
Grantham hatte nicht bemerkt, daß sie noch
Jemanden bei sich hatten; in diesem Augenblicke
aber gewahrte er ein Mädchen, welches schlafend
hinter dem Manne gesessen hatte und jetzt er-
wachte.
Sie blickte auf.
Was war es, was Grantham bewog, so plötz-
lich auszuspringen?
Nein, es war kein Jrrthum möglich. Es war
Louise!
- Ja, es war Louise, aber welche Veränderung
war in diesen wenigen Wochen mit ihr vorge-
gangen!
Sie hatte jetzt nicht mehr das fröhliche, glück-
liche Ansehen, welches sie früher besessen hatte.
Das milde Roth der Gesundheit war von ihren
Wangen gewichen, und sie war bleich, hohläugig,
und hohlwangig.
Grantham konnte nicht anders als vermuthen,
daß dieser Mann und diese Frau sie aus der
Schule hiuweggelockt hätten.
Er überlegte daher auch nicht lange, sondern
schritt quer über das Zimmer und stellte sich ihr
unmittelbar gegenüber.
„Louise!" sagte er.
Sie blickte mit einer Bewegung, fast mit einem
Ruck der Ueberraschung auf und rief unwillkürlich:
„Mein Vater!"
„Louise, meine Tochter, mein Kind!"
Mit einem lauten Ausruf der Verwunderung
und Freude stürzte sie auf Grautham zu und er-
weckte dadurch die Aufmerksamkeit der fämmtlichen
Anwesenden noch mehr, als der Streit der Frau
mit dem Kellner gethan.
Schluchzend warf sie sich in Grantham's Arme.
Achtzehntes Kapitel.
Ein stürmischer Auftritt.
Die Scene, welche nun folgte, ward von Grant-
ham in späteren Jahren noch oft erwähnt und
dennoch war er nie im Stande, sie vollständig
und genügend zu schildern.
Alles gerieth in Aufregung und Verwirrung.
Der Professor — denn der scharfsinnige Leser
hat längst errathen, daß dieses ordinäre Ehepaar
Niemand anders war als Signor Delavanti, der
Magnetiseur, und seine Frau Signora Delavanti
— der Professor verlor mit einem Male alle Fassung.
Was die Genossin seiner Freuden und Leiden
betraf, so saß sie da wie betäubt und sah Kalo
Grantham, bald das Mädchen an.
Ihre wässerigen, grauen Augen traten aus
den Höhlen heraus und ihr Mund stand so weit
und so lange offen, daß ein Photograph vollauf
Zeit gehabt hätte, das Innere ihres Schlundes
anfzunehmen.
Der Professor schien kaum im Stande zu sein,
sich aufrecht zu halten. Er klammerte sich krampf-
haft mit beiden Händen an die Lehne seines Stuhls
und folgte, was Mienenspiel betraf, dem Beispiele
seiner Gattin.
Nachdem er sich ein wenig von dem ersten
Schrecken erholt, begann ihm der Schweiß sicht-
bar auf die Stirne zu treten.
Er wechselte die Farbe wohl zehnmal in weit
weniger Zeit, als wir brauchen, um diese That-
sache zu berichten, und sein ohnehin nicht ein-
nehmendes Gesicht erhielt dadurch ein geradezu
widerliches, krankhaftes Ansehen.
Dem Leser, der sich der Kühnheit erinnert,
womit wir diesen Mann früher zu Werke gehen
sahen, erscheint dies vielleicht seltsam.