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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 22.1930

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Heft 1
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Biermann, Georg: Renée Sintenis
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https://doi.org/10.11588/diglit.27696#0042

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Renee Sintenis Polo. 1929

Mit Genehmigung der Galerie Flechtheim, Berlin

Tradition verleugnel:. die irgend woher atavistisch im Gefühl verankert, im hl. Franz
aufbrach und sich gleichzeitig und noch viele Jahrzehnte danach im Skulpturenschmuck
der Kathedralen offenbarte. Diese Zeiten wußten noch, daß Mensch und Tier ein
Gemeinsames sind innerhalb des wie immer auch gearteten Schöpfungsmythos und
viele der alten Weisen haben sogar das Tier als die reinere Inkarnation des Lebens
über den Menschen gestellt. Man sollte angesichts solcher Tatsachen nachdenken und
Buße tun wegen aller Überheblichkeit unseres Intellektes, der uns bestimmt im Laufe
der Jahrhunderte nicht besser gemacht hat.

Durch Frau Renees Schöpfertum aber sind wir dennoch dem ursprünglichen Gefühl
der Menschheit wieder näher gekommen. Hier begegnen wir keinen Prinzipien der
Kunst, sondern den lapidarsten Äußerungen großer Menschlichkeit. Denn diese Bild-
werke sind Gleichnisse der Kameradschaft zwischen Mensch und Tier, sind Liebe zur
Kreatur, sind Gleichnisse unseres Selbst, einerlei ob das Fohlen weidet und mit jugend-
lichem Ungestüm über die Wiese setzt, ob die Rehe ausruhen oder der Bock im
munteren Drang seines jungen Daseins das Angriffsspiel versucht. So etwas gab es in
der Plastik unserer Zeit noch nicht und es muß betont werden, daß hier einmal Natur
— ohne jeden Nebengedanken der Monumentalisierung und der Abstraktion — so rein
in die Erscheinung tritt wie noch nie zuvor. Trotzdem stelit hinter dieser »nur Natur«
eine große Kunst auf, weil diese psychologisch die Seele der Kreatur durchdringt, weil
der Moment, in dem solch ein Tier rein bildnerisch erfaßt ist, Allgemeingültigkeit ge-
winnt, etwa in dem Sinne wie früher ein »Ecce homo« Inbegriff der Menschentragödie
war -— dies Tier Sinnbild seiner einzigen göttlichen Existenz ist.

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