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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 22.1930

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Heft 23/24
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.27696#0640

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RUNDSCHAU

PRODUKTION PARIS 1930
MALERET UND PLASTIK
VON S. GIEDION

Die Schweiz ist kein Mittelpunkl jener Kunst, die
in den letzten Jahrzehnten den üblichen Begriff
der Malerei negierte und dafür einen neuen schuf.
Wohi aber kann dic Schweiz infolge ihrer Lage,
zwischen deutscher und französischer Kultur, eine
relativ unbefangene Registrierung vornehmen. Die
klare, neutrale Ätmosphäre ist unbeeinflußt von
lokalen Rticksichten verschiedenster Art, die am
Entstehungsort immer mehr oder weniger spiir-
bar sind.

Bis vor kurzem galt in der Schweiz ein Maler, der
sich der üblichen Perspektive entledigte, als eine
Erscheinung, die nicht ernst zu nehmen ist. Es
liegt durchaus in dieser Denkrichtung, daß vor
einigen Jahren einem der bekanntesten Vertreter
heutiger Malerei das Schweizer Bürgerrecht mit
der Begründung verweigert wurde, daß der Mann
vorläufig noch auf zwei Beinen marschiere, aber
man nicht wissen könne, wenn er auf allen Vie-
ren kriechen würde.

Nun, die Anschauungen ändern sich. Es kommt
ein neuer Typ des Sammlers auf, der die Funk-
tion des Sammlers gerade darin sieht, Erscheinun-
gen, die nocli nicht endgültig katalogisiert sind,
um sich zu haben. Mehren sicli aber die Samm-
ler — d. h. die Konsumenten . die sich aus-
schließlich zu dieser Art Malerei hingezogen füh-
len, so wird auch bald — ebenso wie in der Archi-
tektur — eine Umwertung in der öffentlichen
Meinung erfolgen.

Die Ausstellung im Kunstsalon Wolfsberg (Zü-
rich) will nur eine Etappe auf diesem Wege sein.
Heute schon steht das Schloß La Sarraz (Kanton
Waadt) und seine Mittel vor allem für Bestre-
bungen künstlerischer Natur, die eng mit unserer
Zeit verknüpft sind, zur Verfügung, und bereits
im Ilerbst 1929 brachte das Zürcher Kunsthaus
eine Übersicht jener Richtungen, die die neuen
Sehmöglichkeiten unseres Jahrhunderts schaffen
helfen.

ITandelte es sicli beim Kunsthaus um eine Über-
siclit der letzten ao.Iuhre (vom Kubismus 1908
bis zum Surrealismus), so umfaßt die Ausstellung
im Kunstsalon Wolfsberg 1 nur den Ausschnitt der
malerischen und plastischen Produktion, Paris
19.80. Wir haben diesmal Puris 2 gewählt, da dies

1 Die Ausvvahl lag in den Händen von Hans Arp.

2 Wirhaben auch einige deutsch-und welschschweizer
Maler der Ausstellung hinzugefügt, denn es schien
uns wichtig, Bildern, die normalerweise durch die
Jury von offentlichen Ausstellungen ferngehalten
werden, an dieser Stelle Unterkunft zu gewähren.
Als der Gedanke der Ausstellung durchsickerte, kamen
zu unserem Erstaunen von überall her Schweizer
Maler. Wenn wir außer den von vornherein beab-

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fast der einzige Ort ist, wo dem Maler — wenig-
stens noch im Augenblick — innere und äußere
Existenzmöglichkeiten gegeben werden.

Es wäre reizvoll, auch einmal die deutsche und
russisehe Produktion nebeneinander zu stellen. In
Deutschland leben die Vertreier der neuen Malerei
örtlich äußerst zersplittert und vielfach unbeachtet,
vorausgesetzt, daß ilire Bestrebungen nicht psycho-
logistisch gedeutet werden. In Rußland ist der indi-
viduelle Künstler — wenigstens im Augenblick
fast völlig ausgelöscht. Die Arbeiten der russischen
Konstruktivisten reichen bis ungefähr 192 V
Im Kunstsalon Wolfsberg werden wieder, wie im
Kunsthaus, die verschiedenen Richtungen neben-
einander gestellt, die versuchen, die neuen Aus-
drucksmittel unserer Zeit visuell zu erobern. Von
den elementar gestallenden Malern, wie Arp,Does-
burg, Mondrian iiber Max Ernst und Francis Pica-
lia mit seinen raffiniert phantastischen Überblen-
dungen bis zum Neo-Fauvismus (Gruppe um Bo-
res, Vines, Cossio), der in den letzten Jahren in
Paris aufkam und hier immerhin zur Diskussion
gestellt werden soll.

DIE HEUTIGE ROLLE DER MALEREI

Es gibt sofort Anlaß zu Mißverständnissen, wenn
wir uns nicht über den Unterschied klar werden,
der zwischen der malerischen Entwicklungderletz-
ten Jahrhundefte und der heutigen Rolle der Male-
rei liegt.

Wir übersehen den heroischen Kampf nicht, clen
die Maler des 19. Jahrhunderts von Manet bis Ce-
zanne unter Aufopferung ihrer eigenen Person ge-
führt haben. In ihrer Kunst ist, wie oft nachgewie-
sen wurde, bereits die Lockerung des ursprüngli-
chen Begriffs und die Vorahnung des heutigen Be-
griffs »Malerei« vorhanden. Trotzdem wäre es eine
Verwischung der Tatsachen, wenn man nicht auf
denBruch zwischen Gestern undHeute hinwiese.
Diese Spaltung geht oft mitten durch eine Person.
Es ist kein Zufall, daß Picasso im Brennpunkt
zweier Zeiten, gerade bei vollster Ehrlichkeit, zwei
verschiedene Gesichter Iragen m uß: die eine Seite
seines Wesens verlangt Bilder, die den Inhalt der
letzten Jahrhunderte in sich konzentrieren, die an-
dere Seite seines Wesens sc.hafft, aus scheinbar un-
beschränkter Phantasiefülle heraus. gleichzeitigdie
Grundlage für ein neues Weltbild.

Worin besteht die Rolle der heutigen Malerei?

Die Kunst ist heute kein abtrennbares Gebietmehr.
Wir glauben aucli, daß jener menschliche Gestal-
tungstrieb, der hinler der Malerei steht, heute sicli

sichtigten Schweizer Malern mir wenige berücksicli-
tigen konntcn, so sei ausdrücklich betont, dali es sicli
dabei im Einzelfall nicht um ein Urteil, sondern nur
um eine Rücksichtnahme auf Platz und Thema der
Ausstellung handelte.
 
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