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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 22.1930

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Heft 23/24
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Friedländer, Max J.: Jan Grossarts Persönlichkeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.27696#0620

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Er lernte aus Statuen, wie cler Mensch wirklich steht und wirklich sitzt. Als die Wag-
schale seiner Formenkenntnis stieg, sank die Wagschale seiner Phantasie. Er war als
Maler selbstbewußt, in der Komposition aber anlelmungsbedürftig. Er kopiert nach
Jan van Eyck und nach Dürer und steht dem Objekt, auch dem Naturgegenstande, so-
zusagen als Kopist gegenüber; er bleibt auf das Modell angewiesen. Sicherer vor dem
gegebenen Einzelfall, also im Porträt, als in der Erfindung, wagt er sich erst mehrere
Jahre nach der italienischen Reise an selbständige mythologische Erfindung.

Er war niclit lange in ftalien gewesen, hatte nicht viel erblickt. Wenn er von ita-
lienischen Malern gelernt hat, so könnten die mailändischen Schüler Lionardos ihm
Anregungen geboten haben. Die Lichtführung, Modellierung, die breit ausladende
Eorm, das Helldunkel, die Farbenwahl in der Londoner Epiphanie erinnern an Ambrogio
da Predis. An dem Land hat er vorbeigesehen, auch an dem Zusammenhange zwischen
Kunst und Natur. Nicht erblickt hat er die »malerische« Unordnung, die erhabene
Schwermut des von der nagenden Zeit erwirkten Verfalles.

Er fühlte sicli als Architekt, führte Bauten auf, wo ii-gend sich Gelegenheit oder Mög-
lichkeit dazu bot. Das Bauwerk, als übersehbares Menschenwerk, das von ihm erdachte
und deshalb gekannte Gebilde, war ihm willkommener und leichter faßlich als die von
Gott erschaffene Weite und das unbereclienbar organische Leben.

Gossart hat im gotischen Stile gebaut wie im antikischen und keineswegs aufgehört, in
gotischem Stil zu bauen, nachdem er römische Säulen erblickt hatte. Die ererbteForm
und die erlernte vertrugen sich miteinander in seiner, nicht durch inneren Zwang,
sondern durch wissenden Ehrgeiz bestimmten Produktion. Seine Innenräume sind mehr
oder weniger klassizistisch, während die fern im Gelände von außen gesehenen Ge-
bäude, selbst in Bildern seiner Spätzeit, gotisch in den Himmel stechen.

Bauwerk im Bilde war ihm wertvoll als Mittel systematischer Ordnung und, perspek-
tivisch konstruiert, als Mittel der Tiefenillusion. Wie ein Bildhauer aus Stilinstinkt
seine Geschöpfe ungern der Weltweite aussetzt, lieber für Rücken- und Flankendeckung
sowie Bedachung sorgt, so verfährt Gossart, der in Rom den schönen Menschenleib
in Standbildern kennengelernt und etwas von der Sehweise des Skulptors angenommen
hat. Tiefenraum wurde ihm Bedürfnis als Nische, als Apsis für greifbare Leiber, aber
abgemessener, umschachtelnder Tiefenraum, in dem die Menschengestalt groß und
gewichtig erscheint.

Gossarts Bauten, ob gotisch oder antikisch, blitzblank, wie eben fertig geworden, be-
friedigten den Stolz des Autors. Im Verhältnis zu den darin gefangenen Figuren sind
sie Zellen, gegen deren Mauern oder Gitterwerk oder Säulengestänge die runden
Körper andrängen wie Wellen gegen das Gestade.

Antike Statuen studierend, hat Gossart in Rom von einer neuen Schönheit erfahren:
von der Schönheit des nackten gesunden und athletischen Leibes. Als er das Ideal der
prangenden Leiblichkeit, darlegend und dozierend, im Norden laut ausrief, steigerte er
den Maßstab, die Illusion des Kubischen und die Bewegtheit der Glieder. Der fest auf
dem Boden fußende, stolz und frei im Raume sich behauptende Held w'ar in seine
Anschauung eingedrungen.

Auf Reisen, im Süden, im Verkehr mit großen Herren, mit humanistisch aufgeklärten
Männern befreite er sich von manchen Angsten und Bindungen, die innerhalb der
nordischen Stadtmauern, der bürgerlichen Gemeinschaft, die Produktion nach Inhalt
und Form bestimmten. In dreistem und lautem Widerspruche gegen gotisclie Askese
bildet er fleischige und muskulöse Leiber. Physisches Wohlbefinden durchwaltet die
gesunden und starken Geschöpfe und verleiht ihrem Gebaren oft den Anschein turne-
rischer oder sportlicher Aktion. Die Hände sind selten müßig, fast stets bereit zu raffen,

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