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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 30,3.1917

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Heft 13 (1. Aprilheft 1917)
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Hoffmann, Paul Theodor: Vom Heimweh: zu Jung-Stillings 100. Todestage
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https://doi.org/10.11588/diglit.14297#0039

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andere geworden. Das Heiinweh ist die Sucht des Menschen, sich in
seiner Idee zu vollenden. Darum ist es höchste Lebenslust und tiefste
Todessehnsucht zugleich; denn in dem Drängen zur Idee liegt der Zwang
zum Werden gegeben, und das Erreichen bedeutet das Aufhören des
Lebensdurstes, der Werdensqual. Wir erleben ja auch in der gegenwärtigen
Not dieses Zweierlei: die Werdensqual (mit dem häßlichen Worte „Neu«
orientierung" ist ein Teil ihres Begriffsumfanges bezeichnet) und den
Aberdruß am Erdendasein, der zwar ein vorzeitiges Abrücken wollen, ein
Verzicht auf den Erdenkampf und damit Feigheit sein kann, der aber
häufig feine Wurzeln hat in der Sehnsucht nach Sterbensvollendung in
der Idee.

Das tzeimweh, dieser göttliche Rrtrieb in uns, der Lros Platons hat
in der Geisteswelt genug unsterbliche Werke geschaffen; Iung«Stillings
tzeimwehbuch gehört nicht dazu. Es ist zeitlich, allzu zeitlich. Aber wenn
die Werke wert sind, daß sie vergessen werden, so ist es nicht die Persön-
lichkeit Stillings selbst. Die Wahrheit, daß ein Künstler größer sein kann
als das Kunstwerk, das er schafft, erweist sich gerade an ihm. Der Lebens-
komplex dieser Persönlichkeit hat freilich wunderliche Auswüchse, so rn der
bedenklichen Geisterkunde, gezeitigt. Aber er war ein Kraftzentrum, das
Tausende von Seelen im In-- und Auslande an und mit sich riß, dessen
Wirken dadurch noch in unsre Zeit hineingreift, so daß das Beispiel seines
Seins und Lebens von noch unverwüsteter Bedeutung ist.

And das um so mehr, als dieses einen vollendeten Ausdruck gefunden
hat in der selbstgeschriebenen Lebensgeschichte, dem einzigen Werke SLil-
lings, das von der großen Bändereihe auch ferner erhalten zu bleiben
verdient als reiner Mederschlag der Persönlichkeit. Es ist namentlich in
den Iugendpartien auch ein eigenartiges Kunstwerk geworden. Da lesen
wir, wie Stilling in einer abgeschlossenen Waldgegend des Siegerlandes
als der Sohn eines armen Schul- und Schneidermeisters aufwächst, erst
Kohlenbrenner, dann Schneider wird, mit unermüdlicher sanfter Energie
an allem Lesbaren, das er nur erreichen kann, sich ausbildet, wie er es
zum Schulmeister bringt, dabei aber wegen seiner sektiererisch-pietistischen
Art viel Schwierigkeiten erleidet. Er muß die Stellung wieder aufgeben.
Zu tzause erlebt er die traurigsten Zeiten und schlägt sich dann als Haus-
lehrer durch, bis ihn ein vermeintlicher Fingerzeig Gottes zur Augenheil-
kunde führt. Er bringt es zum Studium in Straßburg. Freunde, dar-
unter ein Goethe, fördern ihn. Schließlich wird er der berühmte Augen-
arzt, Universitätsprofessor und weitbekannte pietistische Schriftsteller, der
von einer großen Gemeinde als tzerold Christi gefeiert wird. And die
Moral davon? Wegen der billigen Antwort, daß es einer im Leben mit
Energie weit bringen kann, werden wir das Buch nicht lesen. Wohl aber
wegen dessen, was Ferdinand Freiligrath von ihm sagt:

„Das war die erste deutsche Dorfgeschichte!

Die hat mit Lied, mit Märchen und mit Sage^

Die hat in Einfalt und in eitler Schlichte
Das Gold im Volke treu geschürft zutage,

Die ließ mich schaun durch ihrer Meiler Schwelen
Im festen Amriß starke, mutge Seelen."

Die waldeinsame fromme deutsche Wirklichkeit, wie sie sich in Stillings
tzeimatswelt abspielte mit all ihrer Armut und ihrem bescheidenen inneren

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