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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 30,3.1917

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Heft 17 (1. Juniheft 1917)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14297#0253

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VoM tzeute fürs Morgen

Kindsein

lle fortschreitende Erkenntnis
^^beim Menschen ist das Aufbre-
chen eines inneren Auges. Die
NaLur, unsre, der Menschen, die
Aatur schlechthin: wird ihrer selbst
bewußt — und sieht auf einmal
staunend etwas — das im Grunde
immer da war und bislang nur nicht
gesehen wurde. Vorauf geht ein
Mühen und eine Sehnsucht, so daß
all das, was dann wird, als orga-
nisches Werden zu bewerten ist.
Vielleicht verdeutsche ich's am besten
dadurch, daß ich kurz erzähle, wie
es mir erging. Ich stand zehn
Iahre im Lehrberuf und quälte mich
sehr damit ab, eine Art des Rnter-
richtens, vor allem in ganz be-
stimmten Fächern, zu finden, die
den Erfordernissen wie meinem Ge-
wissen gerecht wurde — und den
Kindern nicht den Schulbetrieb ver-
ekelte. Das Schwierigste, tzeikelste und
Äuälendste war der Religionsunter-
richt; nicht einmal so sehr in religiö-
ser Beziehung; die religiösen Gewis-
senskonflikte waren es gar nicht so
sehr, die mich quälten, als vielmehr
die methodischen. Ich erkannte, daß
rein pädagogisch gesehen der Reli-
gionsunterricht in der üblichen Ge-
stalt etwas dem Kinde Angemäßes
sei. Da war nun die Frage: wie
da herausfinden? Wie einen Weg
des Ilnterrichtes finden, der zugleich
religiös, kindergemäß war und mir
mein Gewissen rein hielt? Ich las
die entsprechende Literatur, die sich
mit der Reform dieses „Faches^
befaßte, las die Bestrebungen, die
auf die Entfernung des Religions-
unterrichtes aus den Schulen hin«
aus gingen — und kam von all dem
unbefriedigt zu mir zurück. Was
tun? Ich fühlte nur, daß ich selber
suchen müsse. And da, zum ersten-

mal in meinen Lrwachsenenjahren,
fiel mir meine eigene Kindheit ein,
mein eigenes Kinvsein, das ich doch
einst, - einst gelebt und dann fast
vergessen hatte. And was lag nun.
näher, als dies mein eigenes Kind-
sein zu überdenken, so gut ich's
heraufholen konnte aus dem Meer
des Vergessenen? Ilnd vorerst mal
lange, genau zu überdenken, was
denn mir damals Religion, Reli-
gionsunterricht gewesen, ob und wie
ich damals religiöse Triebe usw.
etwa gehabt habe? And je mehr
ich darüber nachdachte, desto mehr
fand ich es. Wie eine ferne leise
Melodie kam's über mich, und ich
erkannte: die Erwachsenen wissen
so ganz, ganz wenig vom Kinde,
sie haben meist nur eine Meinung
vom Kinde und geben sich nur sel-
ten die Mühe, diese Meinung am
wirklichen Leben nachzuprüfen, oder,
wie ich bei einem Schriftsteller so
fein las, sie leben „neben den
Kindern", nicht mit und bei den
Kindern. Das ist ja auch so ganz
schwer, denn alles Kindsein vollzieht
sich in einer ganz großen Einsam-
keit. Kindsein ist für uns eins der
größten und schwersten Rätsel. Eins,
das man am besten mit großem
reinen Schauen löst. Am ehesten
so löst. Wir gehen an so vielem
kleinen Leben achtlos vorüber und
wissen es nicht, bis uns auf ein-
tnal die Augen aufgehen und wir
fast erschüttert stehen. Wie etwa an
den Kindern, die vor Weihnachten
an den Schaufenstern mit großen
Augen sich heimliche, wunderselige
Worte zuflüstern. Wieviel Mär-
chenhoffen und Wundertragiken
werden da vor Weihnachten und
zu Weihnachten erlebt! Wieviel
Kinderschicksal im Spiel, an den
Frühlingsabenden, in der Schule,

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