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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 30,3.1917

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Heft 17 (1. Juniheft 1917)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14297#0254

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in der Einsamkeit eines Winkels,
in Höfen oder an Hecken draußen
bei Busch und Traum . . .

Eine Zeitlang, im Frühjahr, sah
ich jeden Mittag, wenn ich um ein
Ahr nach Hause ging, auf einer
offenen grasbewachsenen Baustelle
zwischen zwei Häusern hinterm Zaun
einen kleinen Iungen mit einem
Zicklein spielen. Ich blieb oft stehen
und sah ihm zu; ohne daß er mich
sah. Wie er in reiner Freude mit
dem Tier spielte, es streichelte, vor
ihm weglief, daß es in drolligen
Sprüngen ihm nachsetzte, wie er
dann wieder es zu haschen suchte —
wie er fast als tiergleiches Wesen
in reiner Freude mit dem Tier
lebte — das erschütterte mich. And
denen, die etwa meinen sollten, es
liege in dem Worte tiergleich etwas
tzerabsetzendes, möchte ich sagen,
daß sie dergleichen auch zu erleben
trachten sollten, um das Gefühl der
tzeiligkeit des Lebens zu bekom-
men. Denn dies Gefühl war für
mich da das Wertvollste. Denn wer
möchte sagen beim Anblick solcher
und anderer Kinderszenen, er ver-
stände das Kind, oder wüßte viel
von ihm, wo das Gefühl der gro-
ßen Einsamkeit fast das einzige ist,
was man sicher weiß?

Oder so: auf dem Marktplatze
der Kleinstadt (Linden, die anfan-
gen zu grünen, stehen da herum)
spielen mehrere tzäuflein Kinder.
Späte Nachmittagsonne scheint kühl
über den Platz, ein kleines Wind-
lein weht. Scheiben von kleinen
Häusern blitzen in der Sonne, ein
Mann mit einem Karren fährt vor-
über, und die Kinder spielen: mit
den Marmelsteinen, mit dem Ball,
mit den Kreiseln. Sie sind alle
ganz bei sich und ihrem Spiel. Das
ist die Welt — und wie groß! Wie
groß, das merkt man erst, wenn
man dieses Spielen wirklich sieht.
Da entweicht nämlich im Kreise
rings die andere, die größere, die

Erwachsenenwelt. Du heiliger Ernst
des Kinderspiels und der heilige
Eifer darin, und du reine Freude!
Es sind ja Ferien, — und es ist
Frühling in der Luft und in allen
Gliedern und Herzen. Sie wissen
es sicher kaum — aber sie leben es
ganz und voll aus. Im Hinter-
grunde, gegen die Kirche zu, ragt
ein großes dunkelrotes Haus em-
por, mit vielen großen Fenstern:
die Schule, vierzehnklassig — aber
sie sehen sie nicht. Sie sehen sie
wirklich nicht — es sind doch Fe-
rien! And so spielen sie. Aber es
kommt die feine, erste Dämmerung,
die wird dichter; vom Turm die
Glocke schlägt, ein paar Mütter
rufen nach ihren Kindern aus den
umliegenden Häusern, sie sollen zum
Abendessen kommen; da stocken die
Spiele, da beginnt die allgemeine
Auflösung. And da mitten hinein
sagt auf einmal ein acht- oder neun-
jähriges Mädchen mit einer wahren
und tiefen Trauer: ^Ach, morgen
fängt ja die Schule wieder an!"

Den Sinn für das Kleine und
Verborgene müßten wir wohl wie-
der bekommen. Kindsein war doch
wohl immer etwas anderes, als wir
immer meinten . . . nicht ein dum-
mes Anfertigsein, das sich bemühen
soll, schnell erwachsen zu sein; — ist
es nicht viel mehr ein Sein und
Leben für sich? Iedenfalls, ist es
nicht mehr: als 30 Schulstunden in
der Woche und gelernte biblische
Geschichte, Geographie und Voka-
beln?

Welcher Erwachsene, wenn er ein
ernster Mensch ist, könnte zu solchen
Gedanken „Kinderkult!" meinen!
Wer aber dürfte nicht die Freude
und das Staunen vor reinem Kind-
sein meinen und sich gewinnen dür-
fen?

Aus meinen Heidejahren weiß
ich noch dies: wie ich unter den
Kiefern hervor ein paar Hütekinder,
einen Iungen und ein Mädchen,

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