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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 30,3.1917

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Heft 15 (1. Maiheft 1917)
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Röttger, Karl: Über Schuldeutsch und Kindersprache
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https://doi.org/10.11588/diglit.14297#0152

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konkreter Dinge und Anschauungen handelt? Weiter: „Der Zug der
Meisen. Ein stiller Oktobertag lockt uns früh in den Park. Wir wollen
sehen, ob wir nicht den lieblichen Kindern der Weisen« und Spechtineisen»
paare begegnen, welche uns durch ihr schönes Familienleben im Sommer
erfreut haben. Sie sind längst allesamt in freundlichen Verkehr miteinander
getreten, dem schönen Zuge des geselligen Lebens folgend.^ Kinder, nun
wißt ihr's, die Meisen sind, dem schönen Zuge geselligen Lebens folgend,
in geselligen Verkehr miteinander getreten. Wie, wenn ein Kind den
Lehrer fragt: wohin sind die Meisen getreten? So wie ich als Kind gern
den Lehrer etwas gefragt hätte (aber mich nicht getraute), als wir nämlich
das Lesestück lasen, worin die rührsame Geschichte erzählt wird, wie eine
Mutter „ihren Sohn mit Spinnen ernährt habe" — da HLtte ich näm«
lich gern gefragt, wie eine Mutter ihrem Sohn eine so ekelhafte Speise
geben könne. Der Lehrer war gar nicht darauf gekommen, daß Kinder dies
„mit Spinnen ernähren" nicht verstehen würden; und so wurde das ohne
Erklärung gelesen. Es ist sehr schlecht ausgedrückt, wenn man sagen will,
die Mutter verdiene ihr Geld, das sie brauche, indem sie für andere Leute
spinne, zu sagen: sie ernähre ihre Kinder mit Spinnen. Wieviel solcher
grotesken Vorstellungen mögen in Tausenden von Kinderhirnen herum-
spuken; weil sie, vermöge ihrer ganz konkreten Denk- und Anschauungs-
weise, ganz notwendig in alle gehörten oder gelesenen Wendungen
einen ihnen faßbaren oder irgendwie vorstellbaren Sinn legen? „Ham-
burg ist nicht nur die bedeutendste, größte und reichste tzafenstadt Deutsch-
lands, sondern des ganzen europäischen Festlandes. Gleich der anschwel-
lenden Flut, welche die Kanäle der Stadt füllt, strömt und wogt hier das
Leben.^ Was soll ein Kind sich dabei denken, daß „das Leben" „gleich der
anschwellenden Flut" „strömt und wogt"? Weiter: „das mit hundert-
tausenden unsichtbaren Händen gewaltig ineinander greift^ — nämlich das
Leben. Ich frage nochmals, was soll ein Kind dabei sich vorstellen?
„Deutsche Küste. Die deutsche Küste von Memel bis Emden bietet eine
mannigfache Verschiedenheit ihrer Bewohner; dennoch ist eine Grundver-
wandtschaft unverkennbar, und diese spricht sich in einer unzerstörbaren
Gemütsruhe aus, solange der Mensch auf dem Lande ist.^ — „Erst wenn
sie in ihrem eigentlichen Elemente sind, zeigen diese Leute eine Rührig-
keit und rüstige Ausdauer auch bei der härtesten Arbeit, die in Erstaunen
setzt." Abgesehen von dem an und für sich schlechten Stil solcher unbehol-
fenen Prosa — das sind Redensarten, die dem Kinde ans Ohr klingen wer-
den, die ihm aber nichts sagen können. „Die Ritter und ihre Turniere.
Ihre unaufhörlichen Fehden gegeneinander zerrütteten den Wohl-
stand ganzer Gegenden . . . und gegen solche Ungebühr (!) gab es
oft lange Zeit hindurch keine Abhilfe . . ." Genügt's bald? Äur noch
ein Pröbchen aus einem der verbreitetsten Realienbücher: „Seit den
Zeiten Karls des Großen besaß das deutsche Königtum dem Papste
gegenüber die herrsche Stellung. . . . Auch waren die Könige zur
Vesetzung des päpstlichen Stuhles berechtigt^ „Zu jener Zeit bestieg
Hildebrand, der Sohn eines Zimmermanns, als Gregor VII. den päpst«
lichen Stuhltz Durch ihn wurde die päpstliche Macht auf den höchsten
Gipfel gehoben." — Ich habe eine Reihe Ausdrücke gesperrt. Wenn
man sich vergegenwärtigt, wie das Kind die Worte nach ihrer ursprüng-
lichen Bedeutung nimmt, so mag man sich fragen: was wird das sein, was
nach dem Lesen solcher Stücke in den Kinderköpfen als „Geschichte" spukt?

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