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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 30,3.1917

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Heft 17 (1. Juniheft 1917)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14297#0257

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sungeN) wre sie ihm der Bildungs-
höhe unsres Leserkreises zu entspre-
chen schienen. sms_A

Nachdenkliches zur „Befrei-
ung der Klasfiker"

^run ist es ein halbes Iahrhun-
^^dert her, seit unsre Klassiker
„befreit^ worden sind. Erst da»
mals) erst 1867 wurde durch den
Norddeutschen Bund bestimmt) daß
fortan ohne Rücksicht auf entgegen-
stehende Privilegien und sonstige
Bevorrechtungen alle Werke dem
Rachdruck freiständen, deren Ver-
fasser seit dreißig Iahren und län-
ger gestorben waren. Wie wirkte
das? Lesen wir darüber im Tage-
blatt der Buchhändlerstadt Leipzig
nach: „So begann denn vor fünfzig
Iahren jenes Eindringen unsrer
Klassiker bis in die kleinsten tzüt-
ten, begann jene tzochflut von zahl-
losen Ausgaben im Lexikon- und
im Miniaturformat, mit gelehrten
Anmerkungen und mit reichen Illu-
strationen, im kostbarsten Einband
und im billigsten Druck. Die Leih-
bibliotheken, die vorher den Haupt-
lesehunger der ärmeren Klassen be-
friedigt hatten, traten zurück. Die
Freude am eigenen Buch und da-
mit erst der innere, echte Besitz des-
selben begannen überall hervorzu«
blühen. Im gleichen Iahre wie
das Gesetz, also auch vor einem hal-
ben Iahrhundert) trat die Neclam-
sche Aniversalbibliothek ins Leben,
der wahre Sproß dieser »Befreiung«
unsrer Klassiker, der Vorläufer an-
derer ähnlicher Anternehmungen, die
unsern besten Geistern ein tzeimats-
recht im ganzen Volke verschafft
haben. Denn nicht nur Goethe,
Schiller, Lessing usw. wurden jetzt
allgemein gelesen, sondern der Se-
gen des Gesetzes wirkt bis auf den
heutigen Tag fort und befreit immer
wieder neue Dichter, neue Spender
der schönsten Geistesgenüsse von den
Banden einer beschränkten Verbrei»

tungsmöglichkeit." Allerorten schreibt
man jetzt im gleichen Sinne vom
„Befreien" — aber keiner stutzt da-
bei, daß also die noch nicht „be-
freiten« Geister dann doch wohl
„unfrei" sein müssen, was sie tat-
sächlich im Kapitalsdienste sind. Man
zitiert sogar Hebbels Wunsch, seine
Dichtungen sollten „ihren früheren
Prachtrock abwerfen, um sich auf
Iahrmärkten und Kirchmessen in
einem Bauernkittel von Fließpapier
Herumzutreiben". Man wird auch
schwerlich behaupten, daß das Tempo
der Weltentwicklung langsamer ge-
worden ist — schon die dreißig
Iahre nach dem Tode reichen heute
in manchen Fällen vollkommen aus,
um die breite „Aussaat" von Gei-
stesgütern so lange zu verhindern,
bis sie welk ist. Aber wenn sich's
um irgend eine Anderung des Rr-
heberrechtes handelt, so zieht man
die Folgerungen aus all den
Erfahrungen und Beobachtungen
nicht. Sondern man fragt allein
die interessierLen Geschäftsleute,
was sie empfehlen, ihnen, als den
„Sachverständigen" gemäß behindert
und beschneidet man die Verbrei-
tung und meint: das bedeute dann
einen „Ausbau^ des sogenannten
Urheber-, in Wahrheit des Ver-
werterrechtes. Ceterum censeo: wir
brauchen einen Ambau der Urheber-
recht-Gesetzgebung von Grund aus.
Wir haben die Verfasser nach an-
derem Matz, als dem Tages-Markt-
wert, zu entschädigen, haben Ar-
Heberrechte anzukaufen, den Ver-
legern die Verwertung gegen be-
stimmte Abgaben freizustellen, einen
Arheberschatz zu gründen und all
diese Dinge in die Volkswirtschaft
mit Geistesgut einzuordnen. Immer
wieder: Dürerbundflugschriften Nr.
23 und 63! Wenn man heute schon
allgemein von der „Befreiung^ der
Klassiker spricht, so denke man end-
lich auch an die „Befreiung^ der
Lebendigen! sms A

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