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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 33.1922

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Kassner, Rudolf: Geschmack und Form
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https://doi.org/10.11588/diglit.10456#0066

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INNEN-DEKORATION

ARCHITEKT JEAN KRAMER —BERLIN-SCHÖNEBERG

GAST-ZIMMER. HAUS B. KOMMODE: ROTLACK

GESCHMACK UND FORM.

Der Geschmack wählt. Der Geschmack ist gewisser-
maßen die Sinnlichkeit der Vernunft. In einer ver-
nünftigen Welt oder, soweit die Welt vernünftig ist,
müßte allen Menschen der Geschmack natürlich sein.
Der Geschmack wiederholt sich; er wechselt spielend,
zufällig, er wechselt ermüdet, erschöpft. Der Geschmack
kennt die Distanz ebensowenig, wie die Vernunft sie
kennt. Er ist immer »gleich dabei«. Er ist an der Grenze
des Moralischen und Ästhetischen. Der Geschmack schafft
sich immer nur das Kleid, er wählt die Maske. . . Das
18. Jahrhundert hatte an der Natur nur Geschmack gehabt,
und die Folge waren die vielen Schäfer und Schäferinnen..

*

Der Geschmack begleitet die Neugier. Eine kluge
Frau sagte unlängst: Wer nur Talent hat, muß auch Ge-
schmack haben . . Der Geschmack liebt die Verkleidung,
die Illusion, die Maske und er kann notwendig nur sie
empfinden: die Verkleidung, die Illusion, die Maske. Alles
das gefällt ihm und stimmt ihn heiter. Im Rokoko war
der Geschmack das einzige ästhetische Vermögen. Denn
das Rokoko hat das Material ehrlich gefälscht. Der Ge-
schmack vergoldet, und er genügt stets für den Rahmen.
Wie für die Vernunft, so ist auch für den Geschmack das

Material gleichgültig. Trimalcion sagte von seinem Koch
zu seinen Gästen: »Wenn ihr es verlangt, so macht er
aus einem Saumagen einen Fisch, aus Speck einen Baum,
aus dem Schinken eine Turteltaube, aus den Eingeweiden
eine Henne« . . . Der Geschmack kleidet den Witz und
die Torheit, er kleidet diese Tugend und jenes Laster,

er kleidet aber niemals den ganzen Menschen......

Der Geschmack liebt und begreift also nicht das Ein-
geborene, das Ganze . . In Zeiten des Geschmackes ist
die Natur stets übertrieben. Man kann also auch sagen,
der Geschmack kleidet die Übertreibung. Der Ge-
schmack ist also auch die Form der Menschen, welchen
die unmittelbare Natur immer übertrieben erscheint. . .

*

Wenn man von einem Menschen (oder einem Ding)
sagt: er kann gar nicht anders sein, so hat er Form;
oder wenn ein Mensch mit einem Wort, einer Gebärde
ganz dartut, was er bedeute, wenn er sich ganz gibt,
auch dann hat er Form. Der Eitle könnte stets eine an-
dere Form haben, oder auch: der Eitle bedeutet zu wenig
für seine Form. Der Verlegene bedeutet zu viel für seine
Form, er stößt gleichsam durch. Der Mensch, der viele
Masken trägt, hat noch keine Form. . . rudolf kassner.
 
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