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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 33.1922

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Michel, Wilhelm: Von der Selbstschlichtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.10456#0211

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INNEN-DEKORATION

199

architekt werry roth-friedenau

klubhaus. berliner schlittschuh-klub

VON DER SELBST-SCHLICHTUNG

In aller Menschen-Entwicklung ist der geheime Zug zur
Einfachheit. Selbst in Zeiten, deren äußere Form
sich zu wunderlichen oder üppigen Schnörkeln krauste,
blieb dem Einzelmenschen das Ziel innerer Verein-
fachung unverloren. Goethe — Sproß des Rokoko — lebt
uns das Größte an inwendiger Selbst-Schlichtung vor . .

Es ist nötig, Einfachheit abzugrenzen gegen die Derb-
heit oder Roheit, gegen die Einfältigkeit, gegen die
Plattheit. Es ist überhaupt nötig, zu sagen, wie schwer
es ist, zur wahren inneren Einfachheit durchzubrechen.
Wir sind als Kinder einfach. Aber mit dem fortschrei-
tenden Erwachen wirbelt Trübes, Störendes, selbst Ge-
fährliches und Furchtbares unvermeidlich in uns auf. . .
Der Geist zieht als ein Fremdling in uns ein, oder viel-
mehr: er macht sich von einem gewissen Zeitpunkt ab
als ein anspruchsvoller und sehr bedeutsamer Gast in der
Naturbehausung unseres Wesens geltend. Er muß sich,
seiner Art gemäß, üppig in den Räumen ausbreiten, er
muß sich in allen Ecken der Behausung stoßen, über
manche Stufen stolpern und in dunklen Winkeln irre
gehen. Er muß feindselig mit der andern Partei, die das
Hausbewohnt: mit dem unteren tierischen Ich, zusammen-
stoßen. Aus dieser Lage ergibt sich: es ist schwer für
den Menschen, einfach und wahrhaft frei zu sein. . .

Zum Ziele der Einfachheit wirken alle äußeren und
inneren Bildungs-Einflüsse konzentrisch zusammen.
Bildung heißt Befreiung von den Trübungen und Reibungen
unseres inneren Haushalts. Bildung bezweckt auf der
einen Seite die inwendige Ordnung, auf der anderen Seite

die Durchleuchtung der äußeren Welt, sodaß sie durch-
sichtig wird und sich aus einem verwirrenden Jahrmarkt
von blinden Buchstäblichkeiten in ein klares Kräftespiel
verwandelt . . Von der Natur geht der Mensch aus. Ihr
entstammt sein geformtes, einziges und wahrhaftes Leben.
Das Geistige und der Zusammenstoß mit der äußeren Welt
stürzen ihn zßitweise inWirrsal, und am Ende muß er w i e -
der Natur sein, die nun alles — auch den großen Fremd-
ling Geist — behutsam und gelassen in sich faßt.

•*

Einfachheit ist die Stille und Gelassenheit, die aus
vollkommener Ordnung des inwendigen Haushalts
entspringt. Einfachheit ist Würde. Einfachheit ist Kennt-
nis des mir innewohnenden Lebens-Gesetzes, Kenntnis
meines unvertilgbaren Charakters, und Kenntnis meines
Anteils am Uber-Ich, am Göttlichen und Allgemeinen.
Einfachheit ist die gute Willigkeit, die innere Einfügung,
die da spricht: »Ich wäre gern dem ewigen Gute, was
dem Menschen seine Hand ist«. Einfachheit faßt in sich
Freiheit und Frömmigkeit, Liebe und Wohlwollen, höch-
sten Anspruch und höchste Bescheidung. Einfachheit ist
die wahre Ebenbürtigkeit mit aller Kreatur, die geschwi-
sterliche Freundschaft mit Stein, Blume und Stern. Sie
geht einher mit freudiger Welt-Bejahung und Welt-Tüch-
tigkeit. Sie ist, wenn nicht die höchste, so doch eine
hohe Stufe wahrer Mensch-Werdung und schließt in sich
die Herausstellung unseres echten, grundlegenden Seins,
seine Erlösung aus allem Maskentum und aller trüb-
seligen oder prunkvollen Verkappung . . wilhei m michel.
 
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