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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 33.1922

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Ritter, Heinrich: Die Zeitseele des Innenraums
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https://doi.org/10.11588/diglit.10456#0332

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320

INNEN-DEKORATION

r. lorenz-wien. arch. hugo gorge

kleiner schreibschrank u. sessel.

DIE ZEITSEELE DES INNENRAUMS

Daß es eine »Zeitseele« gibt, kann füglich nicht be-
stritten werden. Schon deshalb nicht, weil der
Mensch genötigt ist, »Seele« in allem zu fühlen, was ein
Organismus, ein Gebilde, ein zusammengesetztes und
lebendiges Vielerlei ist. Aber daß
»Zeitseele« etwas Einfaches, Unzu-
sammengesetztes sei, ist ohne Zweifel
ein Aberglaube. Ist denn unsere eigene
Seele einfacher Natur? Ist sie nicht viel-
mehr ein labiler Gleichgewichts-Zu-
stand, von vielen Antrieben und Stre-
bungen, die unter einander um die Vor-
herrschaft kämpfen? Die Zahl und Art
dieser Antriebe in uns mag sich gleich
bleiben. Aber wechselnd ist immer
ihr Verhältnis .. In dem, was wir »Zeit-
seele« nennen, ist dasselbe Vielerlei
der Bestimmungen, derselbe Wechsel
der Beziehungen. Was ist denn eigent-
lich der vorherrschende Zug im Ge-
sicht unserer Zeit? Ist es das Maschi-
nelle? Das Phantastische? Die
Antwort kann nicht eindeutig lauten.
Vielmehr stehen alle diese Züge neben-
einander, und wie im Antlitz eines
Menschen bald der Zug der Güte, bald
der des Willens, bald ein anderer
hervortritt, so furcht und glättet
sich wechselnd das Gesicht der Zeit.
Der moderne Innenraum ist ein
treuer Spiegel dieser physiognomi-

prof.dr. josef frank-wien. tischchen

sehen Vorgänge. Wir können in ihm genau verfolgen,
wie die Zeit sich bald auf sich selbst besinnt und das
Technische, die Maschinen-Form rücksichtslos bejaht.
Wir können aber auch sehen, wie sie diesem Technischen
manchmal zu entrinnen sucht und sich
in blauer Phantastik spielerisch ver-
schwärmt. Bald spiegelt der Innen-
j räum die ethischen und ernsten Züge
der Zeit, bald spiegelt er die leicht-
geschürzte, tänzerische Anwandlung,
mit derwir den Engen und der Schwere
unseres Daseins Trotz zu bieten suchen.
Bald sehnt sich das Möbel nach der
nüchternen, berechneten Schärfe der
Ingenieurform, bald löst es sich auf in
launisches, flügelleichtes Ornament. .
Wir finden im Innenraum die sämt-
lichen geistigen Elemente der Gegen-
wart vor, insbesondere die Polarität
von Selbstbejahung und Selbstver-
neinung .. Scheint zwischen den Äuße-
rungen dieser entgegengesetzten Ein-
stellungen auch oft keine Ähnlichkeit
zu bestehen, so sind sie doch psycho-
logisch eng mit einander verbunden,
und spätere Zeiten werden dieses Ge-
meinsame der Wesens-Art sicher in
derselben Weise wahrnehmen, wie wir
etwa das Gemeinsame zwischen dem
reichen und dem bürgerlich - schlich-
ten Rokoko wahrnehmen . . h.ritter.
 
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