Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 15.1899/​1900

DOI Artikel:
Pecht, Friedrich: Die deutsche Kunst an der Wende des Jahrhunderts, [1]
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.12046#0170

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
-8-s^> DIE DEUTSCHE KUNST AN DER WENDE DES JAHRHUNDERTS <^ä-*-

noch in dieser kritiklosen Verhimmelung be-
fangen! Merkwürdigerweise sahen weder
Winckelmann noch Lessing oder ihre unzäh-
ligen dozierenden Nachfolger, dass die Antike
der Natur durchaus nicht unbefangen gegen-
übersteht, ja dass ihr nichts so auffallend
abgeht, als jede Art von Naivetät oder Un-
mittelbarkeit, — von Unschuld oder Reinheit
und Jungfräulichkeit — welche erst im Ge-
folge des Christentums auftraten, gar nicht
zu sprechen. Es ist daher durchaus nicht
zufällig, dass der Antike die ganze Kinderwelt
noch ziemlich fremd bleibt. Die antike Kunst
spiegelt eben vor allem das Leben der beiden
Grosstädte Athen und Rom wieder und ist
der Ausdruck einer ziemlich aristokratischen
Weltanschauung, deren Ideal eigentlich nur
das Leben auf dem Forum ist, wo die reichen,
Sklaven besitzenden Bürger einen guten Teil
des Tages verbrachten. Ungefähr so, wie bei
uns im Cafe oder Club. Deshalb kennt denn
auch die antike Kunst eigentlich kein Privat-
oder gar Familienleben. Ob Götter oder
Helden, alle ihre Männer sind sich be-
wusst, nicht allein und darum unbeobachtet
zu sein, sondern sie benehmen sich im Gegen-
teil immer so wie jemand, der sich in guter
Gesellschaft weiss. Auch selbst ihr Heroismus
zeigt das. Wenn Larochefoucauld behauptet,
„Niemand ist ein Held, wenn man's nicht
sieht", so gilt das jedenfalls von den marmor-
nen Helden der Antike ganz unbedingt. Sie
benehmen sich in der Schlacht wie auf der
Bühne, ja die Schaubühne, Olympia oder der
Zirkus sind recht eigentlich ihre Welt. Die
antiken Figuren posieren darum alle — ohne
Ausnahme — was war da natürlicher, als
dass die Nachahmer vom Forum sofort aufs
Theater gerieten? — Was von den Männern
gilt noch viel mehr von den Frauen der Antike,
sowohl von sämtlichen Göttinnen, als von den
irdischen Damen. Für sie giebt es die grösste
Anmut, ja sogar Hoheit, aber weder Keusch-
heit und Reinheit, noch Jungfräulichkeit in
unserem Sinne. Natürlich also auch nicht die
naive Anmut und Schalkhaftigkeit der mo-
dernen Frauen. Das hat alles das Christentum
erst für die Kunst erobert mit seinen lieb-
lichen Mythen, die aber in der Mehrzahl weit
eher nordischen als orientalischen Ursprungs
sind. Ohne Zweifel ist die Venus von Milo
eine herrliche Frau, aber gegen die mystische
Hoheit der sixtinischen Madonna kommt sie
doch nicht auf, obwohl sie eine geborene
Königin und diese nur eine arme Bürgersfrau
ist. Denn Reinheit wie Mutterwürde hat sie
doch vor jener voraus! — Am grössten aber ist
die Lücke in der antiken Kunst eben doch

bei der Kinderwelt. Die gesamte alte Kunst
ist da nicht so reich als der einzige Luca
della Robbia!

In der Bildhauerei ist die grosse Umwäl-
zung, welche unser Jahrhundert in der Kunst
durch sein Streben nach feinerer Charakte-
ristik und besonders nach schärferer Indivi-
dualisierung hervorgebracht, wenigstens in
München schon schwerer nachzuweisen. Vor-
ab weil es da lange nicht gelingen wollte, die
unglücklichen Folgen der in früherer Zeit alles
beherrschenden Schwanthalerschen Kunst
auszutilgen, mit ihrer trostlos nüchternen
Nachahmung der Antike und ihrer Verwässe-
rung durch romantische Velleitäten. Das, was
die Münchener historische Schule der ersten
Hälfte unseres Jahrhunderts oft so unangenehm
erscheinen lässt: Die aus ihrer totalen Ver-
nachlässigung alles feineren Naturstudiums
hervorgehende Roheit der Ausführung — sie
wurde in der Plastik sogar noch übertrieben.
Die Reaktion zu Gunsten des Naturstudiums
und das Streben nach einem pikanteren Vor-
trag, wie beide schon Piloty nach 1850 in die
Malerei mit glänzendem Erfolg eingeführt, sie
treten in der Münchener Bildhauerei eigent-
lich erst mit 1870 und wirklich epochemachend
sogar erst 1890 mit v. Kramer und seinem
Zurückgreifen auf die Niederländer wie Ger-
hard und Donner auf. Man kann es in der
That nur der Schwanthalerschen Tradition zu-
schreiben, wenn die Plastik bei uns bis in
die neuere Zeit die schwächste aller Künste
blieb. Einzelne hochachtungswerte Ausnahmen
wie Wagmüller u. a. ändern daran gar nichts.
Man braucht da nur die trostlos rohe Brunnen-
figur Schwanthalers im Hofgarten mit der
köstlichen Bavaria des Peter Candid oder
Hans Krumpers ebendaselbst zu vergleichen,
um die tiefste Beschämung über den unglaub-
lichen Rückschritt unserer Zeit zu em-
pfinden! —

Die gewaltigste Veränderung zeigt im Laufe
unseres Jahrhunderts indes unstreitig die
Malerei. Sie hat da geradezu unglaubliche
Umwandlungen durchgemacht. ' Schon weil
beständig neben der herrschenden idealen
oder besser akademischen Richtung eine an-
fänglich fast verachtete oder doch sehr von
oben herunter mitleidig betrachtete naturalisti-
sche herging, die nach langem Kampfe erst zu
einer gewissen Gleichberechtigung dann end-
lich zur Herrschaft gelangte. Und auch das
nur, weil sie immer das Publikum auf ihrer
Seite hatte, immer fast allein wirkliche Volks-
tümlichkeit besass. Als König Max Josef
1806 die Errichtung einer Akademie in Mün-
chen beschloss, berief er zugleich mit der

158
 
Annotationen