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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 15.1899/​1900

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Peltzer, Alfred: Giovanni Segantini: (Betrachtungen bei Gelegenheit der Ausstellung zu Ehren des Verstorbenen in Mailand)
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https://doi.org/10.11588/diglit.12046#0305

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GIOVANNI

(Betrachtungen bei Gelegenheit der Ausste!

T~\er Reisende, welcher Italien durchwandert
" und dort von den Eindrücken der Kunst-
denkmäler einer grossen Vergangenheit be-
seligt und gesegnet wird, kann sich eines
wehmütigen Verwunderns kaum erwehren
jedesmal, wenn er auf seinen Fahrten den
Erzeugnissen modernen Kunstschaffens be-
gegnet. Zwar ist wohl kein anderes Land so
danach angethan, das Verlangen des modernen
Menschen nach einer neuen allgemeinen künst-
lerischen Kultur zu beschwichtigen wie gerade
Italien: die Schöpfungen der Vergangenheit
in ihrem unermesslichen, sich auf Schritt
und Tritt darbietenden Reichtum und mit
ihrer, in so manchen Fällen auch noch in
das moderne Leben als lebendiger Faktor
hineinragenden Monumentalität lassen den
kunstfrommen Pilger, der von Ort zu Ort
suchend und findend wandert, wohl vergessen,
was ihn sonst an Missständen im heutigen
Kunst- und Kulturleben bekümmert. Indes,
um so grösser ist dann doch das Erstaunen
jeweils, wenn ihn ein äusserer Anlass zu dem
Ausruf drängt: Wie hat ein Volk, welches
jahrhundertelang im höchsten Masse leb-

SEGANTINI

jng zu Ehren des Verstorbenen in Mailand)

(Nachdruck verboten)

haftes Gefühl für Grösse und Vollendung
künstlerischen Stils offenbart hat, dieses
Gefühl so verlieren können, ja dasselbe —
wenigstens so weit man es aus den in unseren
Tagen entstehenden Werken beurteilen kann —
ganz in sein Gegenteil verkehren können?!

Es ist der Realismus, der bis zu seinen
äussersten Konsequenzen getriebene und zur
Manier gewordene, — der zum Selbstzweck
gestempelte und zum Verkündiger materiali-
stischer Weltanschauung erniedrigte Natura-
lismus, der uns hier entgegentritt, und
in der Erzielung verblüffender Effekte und
der Bethätigung handwerklich technischer
Geschicklichkeit seinen einzigen Stolz sucht.
Von der ehemals so überreichen und edlen
Veranlagung des italienischen Volkes, so
möchte man fast annehmen, ist jetzt, nach-
dem die Blüten schon lange, lange abgestreift
und die Früchte schon längst ausgereift sind,
nicht viel mehr übrig geblieben als eine
Seite, nämlich die Fähigkeit, sich mit Welt
und Leben in egoistischer Bethätigung von
Sinnlichkeit und rechnendem Verstand mög-
lichst glatt abzufinden, woraus dann eine

Die Kunst für Alle XV. 13 1. April 1900.

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